Heinrich Westernhagen

wurde am 1.5.1901 als Sohn des Maurerpoliers Heinrich Westernhagen und Dorette, geb. Quentin, aus Göttingen geboren.1 Er besuchte die Volksschule und absolvierte eine Lehre als Maler. Am 3 Juni 1922 heiratete er Mathilde Rusche. Am 26 September 1922 wurde ihr Sohn Rudolf geboren. Das Ehepaar wohnte seit 1923 im Haus Düstere Straße 10/11. Arbeit fand Westernhagen nach seiner Lehre in verschiedenen Sparten, 1923 ging er einige Zeit als Bergmann in das Ruhrgebiet.

Westernhagen trat 1919 dem Deutschen Metallarbeiterverband bei, 1920 wurde er Mitglied der SPD, die er 1925 wieder verließ. Ob erste Kontakte zum ISK oder sein Eintritt in den Freidenkerverband dafür den Ausschlag gaben, ist nicht überliefert. Im Freidenkerverband, der eng mit dem ISK zusammenarbeitete, bekleidete er den Posten eines Unterkassierers. (Freidenker)

Ab April 1929 war Westernhagen als Lagerarbeiter im Konsumverein beschäftigt, eine Arbeit, die er bis zur Gleichschaltung des Konsumvereins 1933 versah. Ab August 1933 war er bis auf Gelegenheitsarbeiten erwerbslos.2 1935 arbeitete er als Messgehilfe bei dem Landmesser Friedrich Henze, einem Mitangeklagten im Prozess 1936.

Ab spätestens 1930 nahm Heinrich Westernhagen an Aktivitäten des ISK teil. Im Herbst des Jahres wurde er zusammen mit Fritz Körber, Heinrich Oberdiek und Ludwig Fürchtenicht als aussichtsreicher Kandidat für eine Aufnahme betrachtet.3 Für diese Zeit ist seine Teilnahme an einem Rednerkurs des ISK überliefert.4 Bei seiner Aufnahme als Vollmitglied im Frühsommer 1931 wurde noch einmal ausdrücklich darauf verwiesen, dass alle aufgenommenen Genossen schon länger mitarbeiten. Westernhagen, Oberdiek, Körber und Fürchtenicht bekleiden in ihren Gewerkschaften schon seit Jahren z.T. wichtige Funktionen und erfreuen sich der Achtung ihrer Kollegen.5

Ab 1931 war Westernhagen, wie einige seiner ISK-Genossen auch, in der Antifaschistischen Arbeiterwehr aktiv. August Stapel, Hauptkassierer der Freidenker, erinnerte sich: Wir provozierten auch Zusammenstöße mit der SA. Wir gingen mit fünf Mann als Patrouille auf der Weender Straße und hielten dabei die Arme verschränkt. Doch es rührte sich nichts, die Brüder waren ja feige. Am 1. Mai ging ich mit Fritz Schmalz, Westernhagen‚ Kurt Mink (KPD), Albert Stege über den Markt, wo eine Schlägerei stattfand. Die SA von außerhalb war gekommen, und wir wurden in die Barfüßer Straße abgedrängt. Mir wollten zu Herrn Schmalz in die Jüdenstraße, um Knüppel zu holen. In der Theaterstraße trafen wir eine Gruppe von zwanzig SA-Männern. Fritz fragte: „Wollen wir die etwa laufen lassen?“ — „Ran!“ Obwohl wir nur sechs waren, sind die anderen gelaufen wie die Hasen.
Die Arbeiterwehr war dann immer sehr gefürchtet.
6 (Antifa)

Die strengen Lebensregeln des ISK erfüllte das Ehepaar nicht ganz. Heinrich Westernhagen rauchte entgegen den Abstinenzregeln, seine Frau Dorette hatte Schwierigkeiten mit vegetarischer Küche, Grünkohl kochen ohne Wurst war für sie eine schwierige Aufgabe.7

Nach der Machtübertragung waren die Westernhagens weiterhin für den ISK aktiv. Bis zum Herbst 1933 besuchten sie weiterhin die in der nun ehemaligen Geschäftsstelle des ISK im Nikolausberger Weg 67 wohnenden Genossen. Heinrich Westernhagen gehörte ab Ende 1933 zu einer der beiden Fünfergruppen, die von Fritz Körber und Heinrich Düker für die illegale Arbeit geschult wurden, und nahm auch an den illegalen Aktionen der Gruppen teil. (Widerstand Göttingen)

Fritz Körber übernachtete bei seinen Verkaufsfahrten oft bei den Westernhagens in der Düsteren Straße. Dort, im zweiten Stock der Nummer 10/11, wurden in der geräumigen Wohnung unregelmäßige Treffen abgehalten, an denen Körber, Oberdiek, Schmitt, Gries (Hann. Münden) und Düker teilnahmen.8 Die Westernhagens unternahmen z.B. Fahrradtouren, getarnt als Familienausflug, nach Hann. Münden. Dort trafen sie sich mit Mündener ISK-Mitgliedern und verteilten nachts Flugblätter auf Straßen und Bürgersteigen.9

Spätestens ab Herbst 1934 erhielten die Göttinger ISK'ler Reinhart-Briefe (Reinhart-Brief vom April 1935 PDF), die zunächst in der Gruppe weitergegeben wurden. Ab Anfang des Jahres 1935 wurden deren Bezug regelmäßiger und es trafen auch mehr Exemplare ein, alle sechs Wochen jeweils 15-20 Stück. Diese wurden von Karl Wagner in Empfang genommen und von Heinrich Westernhagen weiter verteilt. 10

Am 17.1.1936 wurde Heinrich Westernhagen zusammen mit anderen ISK-Aktivisten verhaftet. Heinrich Westernhagen war, wie Oskar Schmitt, Teil des illegalen Eisenbahner-Netzwerks der Internationalen-Transportarbeiter-Föderation. Anzunehmen ist, dass er für die Abholung und Verteilung des illegalen Materials verantwortlich war, das nicht über den Postweg ins Reich gelangte. (Verbindungsweg illegale Schriften) Hans Jahn, Leiter des Netzwerkes, übersandte am 12.2.1936 Informationen an den Generalsekretär des ITF, Edo Fimmen, die er von einem Kurier aus Göttingen erhalten hatte. Jahn spricht von insgesamt 65 Verhafteten, die dem Umkreis des ISK zugerechnet wurden. Er führte weiter aus: Unter den Verhafteten befinden sich 4 Mitarbeiter (Oskar Schmidt, Westernhagen, Bode, und Kleinschmidt), davon sind zwei verheiratet. Bisher ist nicht festgestellt worden, dass die Verhafteten wegen ihrer Tätigkeit zu unserer Gruppe hochgegangen sind. Der Grund für die Verhaftung ist lediglich in der Verteilung von illegalen Zeitschriften und Flugblättern zu suchen.11 (Verhaftungen und Prozess)

In der Anklageschrift vom 9.3.1936 warf die Staatsanwaltschaft Kassel Westernhagen vor, sich an der illegalen Arbeit des ISK insofern beteiligt zu haben, als er in Zusammenarbeit mit Körber und Oberdiek Flugschriften entgegennahm und diese weiter verteilte, Geldspenden für die Organisation sammelte und seine Wohnung für Treffen zur Verfügung stellte.12

Im Prozess am 28./29.4.1936 vor dem Strafsenat des Oberlandesgerichts Kassel kam noch Funktionärstätigkeit und die Pflege von illegalen Verbindungswegen hinzu. In seiner Urteilsbegründung hieß es: Hinsichtlich des Strafmaßes war bei den Angeklagten Körber, Westernhagen und Oberdieck erschwerend der grosse Umfang und die erhebliche Bedeutung ihrer Tätigkeit für den ISK im Bezirk Südhannover zu berücksichtigen. Sie alle bekleideten führende Stellungen in der von ihnen vornehmlich neu aufgebauten Organisation und waren sich wohl bewusst, was sie taten und dass sie hohe Strafe riskierten. Ein Grund zur Annahme eines minder schweren Falles bestand nicht. (…) Von nicht viel geringerer Bedeutung (als die Körbers) war die Tätigkeit der Angeklagten Westernhagen und Oberdieck, ohne deren Hilfe Körber allein gar keine genügende Möglichkeit zur weiteren Einflussnahme gehabt hätte. Die Wirksamkeit der ganzen Organisation hing davon ab, dass die Funktionäre als unentbehrliche Bindeglieder zu den einzelnen Anhängern des Bundes ihre Arbeitskraft dem ISK zur Verfügung stellten, wie sie es auch getan haben. Wenn dennoch für Westernhagen eine Zuchthausstrafe von nur drei Jahren als ausreichende Sühne erachtet wurde, so nur deshalb, weil dieser Angeklagte durch ein schweres körperliches Leiden (Epilepsie) diese Strafe schwerer empfinden muss als ein gesunder Mensch.13

Zu der Zuchthausstrafe von drei Jahren kam die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für fünf Jahre hinzu. Inhaftiert wurde Westernhagen im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden. Seine Frau und sein 14-jähriger Sohn Rudolf konnten ihn dort einmal vierteljährlich besuchen. Im Januar 1939 wurde er entlassen und kehrte nach Göttingen zurück. Dort fand er eine Beschäftigung als Lagerarbeiter bei EDEKA.

Im Herbst 1944 wurde Westernhagen zum Bau von Panzergräben an der Westfront gezwungen. Anscheinend äußerte er seine Kritik, dass dies sinnlos sei, weil der Krieg längst verloren sei, gegenüber den falschen Leuten. Er wurde denunziert und in Göttingen in Untersuchungshaft genommen. Nach Beschädigung des Gerichtsgefängnisses bei einem Luftangriff im November 1944 ging er nach Hause, stellte sich aber am nächsten Tag der Polizei. Daraufhin wurde er in Hannover in Untersuchungshaft genommen. Die Ermittlungen führten aber, wahrscheinlich wegen des nahen Kriegsendes, nicht mehr zu einem Prozess. Die Haftbedingungen in Hannover waren schlecht, Heinrich Westernhagen zog sich dort schweres Asthma zu. Bei Kriegsende kam er als „Politischer“ schnell frei und brauchte zwei Tage, um zu Fuß Göttingen zu erreichen.

Westernhagen fand Arbeit als Bote beim Sozialamt. Den Kontakt mit den anderen ISK'lern und die Besuche im Nikolausberger Weg, wo wieder die Familien von Fritz Körber und Heinrich Oberdiek wohnten, setzte er fort.14



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Literatur und Quellen

Gefangenenpersonalakte Gustav Funke: Strafgefängnis Hameln. Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 86a Hannover Acc. 2000/057 Nr. 195.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Berichte 1931. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000021.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1930. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00020.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946): Korrespondenz 1936. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000029.

Internationale-Transportarbeiter-Föderation; Aufzeichnungen über Personen: Schmitt, illegales Netzwerk. Archiv der sozialen Demokratie, 5/ITFA000096.

Nachlass Arthur Levi: Anklageschrift 9.3.1936; Unterlagen von Fritz Körber. Stadtarchiv Göttingen.

Westernhagen, Dörte von (2012): „Wir gehen nach 67“ - Heinrich Westernhagen, Göttingen, Mitglied des ISK. Stadtarchiv Göttingen, E 1001. Elektronische Ressource des Stadtarchivs, Seitenzählung folgt der Ausgabe des Archivs. Original: Dörte von Westernhagen (Hg.): Von der Herrschaft zur Gefolgschaft: Die von Westernhagens im „Dritten Reich“, Frankfurt a.M. 2012.



1Westernhagen, S. 1, biografische Daten Heinrich Westernhagen.

2Gefangenenpersonalakte Gustav Funke, S. 12-13, 29.4.1936 - Urteil des Strafsenats des Oberlandesgerichts in Kassel, S. 13.

3Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 3, 17.10.1930 - ISK-Ortsverein Göttingen.

4Ebenda, S. 4, Vierteljahresbericht Oktober bis Dezember 1930.

5Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 2, 6.7.1931 - Vierteljahresbericht II. Quartal.

6Interview August Stapel 21.01.1977, S. 2.

7Westernhagen, S. 5, biografische Daten.

8Internationale-Transportarbeiter-Föderation und Aufzeichnungen über Personen, S. 1, Oskar Schmidt, Interview vom 25.11.1965.

9Westernhagen, S. 4.

10Gefangenenpersonalakte Gustav Funke, S. 8, 29.4.1936.

11Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946), S. 4, 12.2.1936 (Amsterdam) Jahn an Fimmen.

12Nachlass Arthur Levi, S. 6, 9.3.1936 - Anklage Westernhagen, S. 5-6.

13Gefangenenpersonalakte Gustav Funke, S. 32, 29.4.1936.

14Westernhagen, S. 6.

Rainer Driever