Freidenker

Seit 1924 existierte in Göttingen eine Ortgruppe des Verbandes für Freidenkertum und Feuerbestattung. (Wikipedia Freidenker)
Thematisch war die Arbeit der Freidenker im Bereich der Kultur- und Schulpolitik angesiedelt. Zu Anfang hatte die Ortgruppe ca. 80 Mitglieder, bis 1929 stieg deren Zahl auf ca. 550 an. Im Jahr 1930 hatte der Verband in Göttingen 700 eingeschriebene Mitglieder. In diesem Jahr wurde der Verband umbenannt in
Deutscher Freidenkerverband. Dies war das Resultat einer Abspaltung des Proletarischen Freidenkerverbands, dem in Göttingen ungefähr 200 Mitglieder folgten, die eher der KPD zuzurechnen waren. Die Mehrzahl der ISK-Mitglieder war parallel auch bei den Freidenkern eingeschrieben.1

Der ISK machte seinen Einfluss auf die Freidenker lange Zeit über Fritz Schmalz geltend, der den Vorsitz des Vereins ausübte. Abgelöst werden sollte er Anfang des Jahres 1932 von Fritz Körber (Fritz Körber).2 Organisiert wurden z.B. monatliche Vorträge im Volksheim und Filmvorführungen; für Schulentlassene wurde außerdem anstelle der Konfirmation eine Jugendweihe angeboten.3 Zudem warben die Freidenker für Feuerbestattung und stellten auch Grabredner, die rhetorisch besonders ausgebildet wurden. Zu den Veranstaltungen, so erinnerte sich Fritz Schmalz‘ Bruder Helmut, wurden am Sonntag Matinees organisiert. Da kamen Rezitatoren und Musiker vom Theater hin. ...Die waren sehr, sehr gut besucht, obwohl jeder eine Mark Eintritt zahlen musste, Solidarität einfach durch Handaufheben gab es damals nicht.4

Auch andere ISK-Mitglieder finden sich in den Reihen der Freidenker. Willi Eichler (Willi Eichler) war 1924/25 stellvertretender Vorsitzender des Verbandes in Göttingen.5 Heinrich Düker (Heinrich Düker) hatte als Vertreter der Universität einigen Einfluss, Heinrich Westernhagen (Heinrich Westernhagen) war seit 1925 ebenfalls im Verband mit der Funktion eines Unterkassierers tätig. August Stapel, lange Zeit Hauptkassierer des Verbandes, erinnert sich an die Zusammensetzung des Göttinger Ortsgruppe: (Es) waren meistens Arbeiter und niedere Angestellte. Studenten wanderten zu dieser Zeit (1930) schon zum nationalsozialistischen Hochschulbund. Die Intelligenz in der SA waren eigentlich die Studenten, die sich jedoch im Hintergrund hielten.6

Thematisch lagen die Ziele der Freidenker dicht bei denen des ISK. So gab es auch gemeinsame Veranstaltungen beider Organisationen, im Frühjahr 1927 z.B. in Waake. Am 9.2.1927 nahmen ISK und Freidenker an einer Veranstaltung zur Schaffung einer Einheitsfront gegen das Reichskonkordat teil, die auf Einladung des Göttinger Gewerkschaftskartells gemeinsam mit 40 Organisationen stattfand (KP, SPD, Gewerkschaftskartell, Eisenbahnerverband, Bauarbeiterverband, Metallarbeiterverband, Volkschor, Buchdrucker etc.).7 Auch wurden gemeinsame Anstrengungen unternommen, auf der Freidenker-Bezirkskonferenz am 13.3.1927 in Kassel für die Region Südhannover einen eigenen Bezirk zu schaffen.8

Ebenso wurden Vorträge seitens der ISK-Mitglieder immer wieder bei den Freidenkern angeboten. Diese wurden im Vorfeld besprochen und konnten schon einmal als „zu schwierig“ eingeschätzt werden, wie z.B. der geplante Vortrag von Hermann Küchemann im Dezember 1927 („Kinderrecht, Elternrecht und Staatsrecht“).9

Den Aktionen zur Jugendweihe war Ende der 1920er Jahre meist großer Erfolg beschieden (z.B. im März 1929). Dies wurde seitens der Freidenker durchaus auf die Zusammenarbeit mit dem ISK zurückgeführt. Zu den Erfolgen der Zusammenarbeit des ISK mit dem Freidenkerverband gehörte auch die Eröffnung des Kindergartens Kinderheim e.V. in der Groner Landstraße 37b am 19.8.1928. Im Freidenker Nr. 9 von 1928 ist zu lesen, dass dabei Genossen aus dem ISK, der KP und der SP einmütig mit den Freidenkern zusammen gearbeitet und damit den Beweis angetreten hätten, dass eine Einheitsfront des Proletariats möglich ist. Auch die Mitglieder des sozialistisch-dissidentischen Lehrer-Kampfbundes hätten sich an der Schaffung des Kindergartens nicht nur ideell, sondern auch materiell in hervorragendem Maße beteiligt.10 Fritz Schmalz (Fritz Schmalz)berichtete dem Ortsvorstand des ISK im März 1929: Ich höre immer wieder günstige Urteile über unsere Arbeit von Menschen, die ich bisher für Gegner gehalten habe.... Die Freidenker merken sehr genau, wie die Arbeit des ISK wirkt, und manche haben den Wunsch, diese Arbeit zu unterstützen. Über die Mitgliederzahlen des ISK bestehen phantastische Vorstellungen (...).11

Neben den Vorträgen und Veranstaltungen wurden auch regelrechte Schulungskurse für die Freidenker abgehalten, so ein im Frühjahr 1930 begonnener Rednerkurs des Verbandes unter Leitung von Fritz Schmalz oder im April des Folgejahres ein alle 14 Tage stattfindender Kurs über die politische Aufgabe des Deutschen Freidenker Verbandes und über die Methoden guter Freidenkerarbeit. Umgekehrt fanden manche Mitglieder der Freidenker über Einladungen zu Schulungen des ISK den Weg zu den „Nelsonianern“, wie die ISK-Mitglieder nach dem Tod Nelsons 1927 auch genannt wurden. Fritz Körber, der spätere Verwalter der Geschäftsstelle im Nikolausbergerweg, gehörte zu diesem Personenkreis.12

1931 versuchten die Kommunisten, ihren Einfluss auf die Freidenker zu vergrößern. Dies wurde jedoch innerhalb des ISK als wenig gefährlich eingeschätzt. Im Frühsommer 1931 hieß es: Bei den Freidenkern haben die Kommunisten in der Berichtszeit Spaltungsversuche unternommen. Diese Aktion wird allerdings in Göttingen keine grössere Bedeutung erlangen, weil der Einfluss der KP zu gering ist und unsere Freidenkerarbeit keine Angriffsfläche bietet. Zudem haben wir rechtzeitig Abwehrmassnahmen ergriffen und z.B. in einer außerordentlichen Funktionärssitzung alle KP-Mitglieder ihrer Funktion im Freidenkerverband enthoben, weil sie sich nicht durch Unterschrift verpflichten wollten, verbandstreu zu arbeiten.13

Der Plan des ISK, eine Tageszeitung herauszugeben, änderte vieles. So auch die Arbeit des ISK bei den Freidenkern. Nach dem Wechsel der „Funken-Mannschaft“ Anfang 1932 nach Berlin gab die verbliebene ISK-Gruppe die vielen kleinen Kurse für die Freidenker auf und konzentrierte sich auf monatlich eine MV (Mitgliederversammlung) und daneben einen Schulungskurs für Funktionäre.14

Am 6.5.1932 wurde per Notverordnung die Auflösung der Gottlosenorganisation angeordnet. Willi Eichler fragte aus Berlin nach, was zu tun wäre, dass wirksame Solidaritäts-Kundgebungen des DFV gegen das Freidenkerverbot zustande kommen?15 Die Notverordnung richtete sich gegen die Internationalen Proletarischen Freidenker mit angeschlossenen Organisationen.

Bis zur Machtübertragung finden sich aus den oben genannten Gründen keine Spuren des Verbandes im Zusammenhang mit dem ISK. August Stapel, der Hauptkassierer, erinnerte sich an den Fackelzug der Nationalsozialisten anlässlich Hitlers Kanzlerschaft: Dabei haben wir uns verkrümelt. Ich blieb vierzehn Tage bei meinen Schwiegereltern. Schmalz war in Hann. Münden untergetaucht. Der Verband war jedoch noch nicht aufgelöst, man wußte ja nicht, wie die Entwicklung weiterging.16 Nach der Wahl vom 5. März 1933 entschlossen sich Schmalz und Stapel zu handeln. Um einer drohenden Haussuchung zuvorzukommen, verbrannten die Beiden die Mitgliederlisten der Freidenker und schickten einen Auflösungsbescheid an die Ortspolizei.17

Am 2.6.1933 wurde bei Fritz Schmalz eine Wohnungsdurchsuchung vorgenommen, bei der es um Material des Freidenkerverbandes ging. Die Polizei nahm zwei Briefordner mit Schriften und Aufsätzen und einige Broschüren mit, die allerdings nicht als staatsfeindlich eingestuft wurden.18


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Literatur und Quellen

Bons, Joachim; Denecke, Viola; Duwe, Kornelia; Löneke, Regina; Tapken, Bernd (Hg.) (1986): "Bohnensuppe und Klassenkampf". Das Volksheim: Gewerkschaftshaus der Göttinger Arbeiterbewegung von der Entstehung im Jahre 1921 bis zu seiner Zerstörung 1944. Göttingen.

Giesselmann, Rudolf (1997): Geschichten von der Walkemühle bei Melsungen in Nordhessen. Kassel.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Briefe, Berichte 1930-33. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000012.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Berichte 1931. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000021.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1929. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00018.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1927. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00014.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1930. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00020.

Interview August Stapel (21.01.1977). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I Nr. 90 (Popplow-Box).

Politische Vereinigungen, Bd. 1. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 153, Nr. 1, Bd. 1.

Rüther, Martin (1998): Deutschland im ersten Nachkriegsjahr : Berichte von Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) aus dem besetzten Deutschland 1945/46. Unter Mitarbeit von Uwe Schütz und Otto Dahn (Hrsg.). München: Saur (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte).



1Politische Vereinigungen, S. 467, 8.4.1937 - Krim.Abt. an Stapo-Stelle Hildesheim – Freidenkerverband. Zwei Zeitzeugen, August Stapel und Oskar Schmitt, nannten unabhängig voneinander eine Mitgliederzahl von 1000 Personen am Ende der Weimarer Republik.

2Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 3, Vierteljahresbericht 3/1931, Fritz Schmalz.

3Bons (19986), S. 42.

4Giesselmann 1997, S. 46, Freidenker – Veranstaltungen.

5Rüther 1998, S. 554–555, Eichler, Willi; biografische Daten.

6Interview August Stapel 21.01.1977, S. 2–3, Freidenker, Mitglieder.

7Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 2, Monatsbericht Februar 1927, 5.3.1927, Fritz Schmalz.

8Ebenda, S. 3, Monatsbericht März 1927, 5.4.1927, Fritz Schmalz.

9Ebenda, S. 10, Monatsbericht Dezember 1927.

10Bons et al. 1986, S. 42, 19.8.1928 - Eröffnung des Freidenker-Kindergartens in Göttingen, Der Freidenker, Nr. 9, 1928.

11Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 4, Monatsbericht März 1929, Heinrich Breves.

12Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 2, Vierteljahresbericht 2/1930, 11.7.1930, Fritz Schmalz.

13Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 2, 6.7.1931 Vierteljahresbericht II. Quartal.

14Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 4, 4.1.1932 Vierteljahresbericht 4/1931 Albert Steen.

15Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 25, 6.5.1932 Willi Eichler an OVV.

16Interview August Stapel 21.01.1977, S. 3, 30. Januar 1933.

17Ebenda, S. 4, Organisation 1933.

18StA Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 155, Nr. 5, Bll. 86-86v.

Rainer Driever