Abriss der Stadtgeschichte |
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Im Jahr 953 schenkte der deutsche Kaiser Otto I. in einer Urkunde dem
von ihm besonders geschätzten Moritzkloster in Magdeburg einige
Ländereien, worunter sich auch Güter befanden, die in einem
Dorf namens Gutingi lagen. Mit dieser Schenkung taucht der Name unserer
Stadt erstmals aus dem Dunkel der Geschichte auf. Eine
Ersterwähnung darf allerdings nicht mit der Gründung eines
Ortes verwechselt werden. Sie besagt nicht mehr und nicht weniger, als
dass die genannte Siedlung zum Zeitpunkt ihrer Erwähnung bereits
bestand. Wann sie gegründet wurde und wie lange sie schon
existierte, bleibt unklar. Auch für das Dorf "Gutingi"
gibt es kein Gründungsdatum. Sicher ist aber aufgrund zahlreicher
archäologischer Grabungen, dass im Gebiet der heutigen Stadt
Göttingen schon weit in vorgeschichtlicher Zeit immer wieder
Menschen siedelten. Der Ortsname Gutingi ist wahrscheinlich zu deuten
als "Siedlung am Wasserlauf" (mit dem germanischen
"gote" hängt das heutige "Gosse" zusammen),
wobei mit dem Wasserlauf ein Vorläufer des heutigen Reinsgrabens
gemeint ist, einer jener zahlreichen Bachläufe, die vom Hainberg
in die Leine fließen. Die wahrscheinlich wenigen und bescheidenen
Hütten des Dorfes gruppierten sich um eine dem Hl. Albanus
geweihte Kirche, so dass die Albanikirche das älteste
Göttinger Gotteshaus ist. Der heutige Kirchenbau stammt
allerdings erst aus dem 14. und 15. Jahrhundert.
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Über das Schicksal des Dorfes Gutingi ist weder aus der Zeit vor
953, noch für die folgenden Jahrhunderten etwas bekannt. Im
Gegensatz dazu tritt genau in dieser Zeit ein Ort in seinem
näheren Umkreis markant hervor: die Pfalz Grone auf dem
südlichen Sporn des Hagenberges. Im Mittelalter war das
Königtum ein Amt, das im Reisen ausgeübt wurde: die Herrscher
hatten über das ganze Reich verstreut Stützpunkte - die
Pfalzen - angelegt, die sie abwechselnd mit ihrem Hofstaat aufsuchten,
um die in der jeweiligen Region anfallenden Regierungsgeschäfte zu
erledigen. Einer jener Stützpunkte war die Pfalz Grone. Wo der
Herrscher jeweils weilte, befand sich der Regierungssitz des Deutschen
Reiches, das sich damals von Dänemark bis tief nach Italien
erstreckte. Die Pfalz Grone wurde von den Kaisern und Königen Otto
I., Otto II., Otto III. und Heinrich II. immerhin achtzehn Mal
aufgesucht und stieg damit jeweils gewissermaßen zur deutschen
Hauptstadt auf. Kaiser Heinrich II. ist hier am 13. Juli 1024
verstorben.
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Wann und unter welchen Umständen die eigentliche Stadt
Göttingen entstand, ist nicht exakt zu bestimmen; wahrscheinlich
geht die Gründung auf eine Initiative Herzog Heinrich des
Löwen zurück und erfolgte in der Zeit zwischen ca. 1150 und
1200. Ihr Zentrum lag im Bereich von Johanniskirche und Marktplatz: das
Dorf Gutingi gab der Stadt zwar seinen Namen, war aber nicht deren
eigentliche Keimzelle. Der Bezirk des Dorfes ist vielmehr noch
Jahrhunderte später als gesonderter Bereich - das sog. "Alte
Dorf" um die Albanikirche und entlang der
Langen-Geismar-Straße - erkennbar. Auch der Zeitpunkt der
Verleihung des Stadtrechtes ist unklar. Sicher ist, dass um das Jahr
1200 bereits eine stadtähnliche Siedlung bestand, deren Bewohner
als Bürger bezeichnet wurden. In der ältesten Urkunde des
Göttinger Stadtarchivs (ca. 1229) werden zum ersten Mal Ratsherren
erwähnt, was die Existenz einer regelrechten Stadtverfassung
voraussetzt.
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In den Jahrzehnten nach seiner Gründung entfaltete Göttingen
eine enorme politische und wirtschaftliche Dynamik, die es den
Bürgern ermöglichte, sich schrittweise aus der
Abhängigkeit von ihrem Stadt- und Landesherrn, dem Herzog von
Braunschweig-Lüneburg, zu lösen. Dieser besaß zwar eine
feste Burg, den "Bolrus" oder "Balrus" in der Stadt,
sah sich aber auch zu weiteren Gegenmaßnahmen veranlasst. Herzog
Albrecht der Feiste von Braunschweig-Lüneburg ließ noch vor
dem Jahr 1300 westlich außerhalb der Göttinger Stadtmauer
eine "neue Stadt" anlegen.
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Die Einwohnerschaft unserer Stadt war im Mittelalter nicht homogen,
sondern rechtlich, wirtschaftlich und sozial stark gegliedert. Die
politische und ökonomische Spitze der Bürgerschaft bildeten
die in der Kaufgilde zusammengeschlossenen Groß- und
Fernhändler. Symbolhaft für diese prominente Position war,
dass die Kaufgilde während des gesamten Mittelalters ihren Sitz im
Rathaus hatte, das in den zeitgenössischen Quellen daher meist
auch "kophus" (Kaufhaus) heißt.
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Der Kaufgilde folgten in sozial absteigender Linie die Gilden und
Innungen der Schuhmacher, Bäcker, Wollenweber, Leineweber,
Schneider und Schmiede; die Knochenhauer (Schlachter) nahmen eine
Sonderstellung ein. Der Rest der handwerklich tätigen
Bürgerschaft bildete die "Meinheit" zusammengefasst. Die
Bürgerschaft wiederum umfasste bei weitem nicht alle Einwohner der
Stadt. Das Bürgerrecht musste in einem formalen Akt erworben werden
und war mit speziellen Rechten, aber auch Pflichten (z. B. zur
militärischen Verteidigung der Stadt) verbunden. Die Einwohner
ohne Bürgerrecht, wie z. B. Familienmitglieder, Dienstboten oder
wandernde Händler, wurden als Medewohner (Mitwohner) bezeichnet.
Zwei Bevölkerungsgruppen hoben sich besonders heraus: die
Geistlichen und die Juden.
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Die Geistlichen und die zahlreichen kirchlichen Institutionen, die
über das Gebiet der Stadt verstreut waren, unterstanden den
geistlichen Gerichten und bildeten auf diese Weise gewissermaßen
Fremdkörper innerhalb der Stadt. Das hatte nicht zuletzt auch
finanzielle Folgen, denn die Geistlichen waren von der wichtigsten
städtischen Steuer, dem sog. "Schoß", befreit. An
erster Stelle standen die fünf Pfarrkirchen mit ihren zahlreichen
Altären: St. Johannis, St. Jacobi, St. Nicolai, St. Albani, St.
Marien. Daneben sind die Klöster der Franziskaner und der
Dominikaner zu nennen.
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Juden werden in Göttingen erstmals im Jahr 1289 erwähnt. Ihre
Gemeinde hat während des Mittelalters nicht kontinuierlich
bestanden, denn auch in Göttingen mussten sie immer wieder
blutigen Pogromen und Vertreibungen erdulden, und für einhundert
Jahre, von 1460 bis 1559, lebten in Göttingen überhaupt keine
Juden. Über die Größe der Gemeinde lassen sich nur
ungefähre Angaben machen, viel mehr als 100 Personen wird sie aber
nie umfasst haben. Die heutige Jüdenstraße scheint nur in
den ersten Jahrzehnten der Stadtentwicklung das Zentrum des
jüdischen Wohngebietes gewesen zu sein, im Spätmittelalter
siedelten sie vor allem in der Speckstraße, wo sich auch ihre
Synagoge befand, und der "Kurzen Jüdenstraße",
dem zwischen Weender und Jüdenstraße gelegenen Abschnitt der
heutigen Theaterstraße. Nach der Wiederansiedlung von Juden um
die Mitte des 16. Jahrhunderts blieb die Gemeinde viele Jahrzehnte ohne
Gotteshaus. Erst zwischen 1710 und 1720 konnte in einem Hinterhaus an
der Prinzenstraße eine neue Synagoge errichtet werden.
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(Auszug aus: Ernst Böhme: Göttingen: kleiner Führer durch die Stadtgeschichte) |