Abriss der Stadtgeschichte |
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Trotz aller Demonstrationen von Macht und Selbstbewusstsein geriet Göttingen vor allem aufgrund der technisch und qualitativ überlegenen Textilproduktion in England und Flandern seit dem Ende des 15. Jahrhunderts wirtschaftlich und politisch in eine Krise. Da damals wie heute galt: wenn die Wirtschaft lahmt, wird auch das öffentliche Geld knapp, erhöhte sich vor allem die Verschuldung des städtischen Haushalts. Unter dem Druck der sich verschärfenden Finanzkrise kam es zum offenen Konflikt, der in einem regelrechten Aufstand eskalierte. Am 6. März 1514 stürmten die Gilden das Rathaus, setzten den Rat kurzerhand gefangen und jagten ihn anschließend aus der Verantwortung. Zwar konnte der Rat nach kurzer Zeit mit Hilfe des Landesherrn Herzog Erich I. zunächst seine alte Stellung wieder zurückgewinnen und festigen, der Konflikt schwelte jedoch fort und brach in den folgenden Jahren immer wieder aus. |
Im Zusammenhang mit diesen heftigen Auseinandersetzungen steht auch die Einführung der Reformation in Göttingen. Diese von Martin Luther ausgelöste Glaubensbewegung hat in der deutschen Geschichte tiefe Spuren hinterlassen, war sie doch mit nahezu allen Bereichen des politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Lebens verwoben. Während sich in vielen Städten der neue Glaube sehr früh und energisch Bahn brach, blieb Göttingen zunächst davon weitgehend unberührt. Erst 1529, also 12 Jahre nach Luthers Thesenanschlag, kam es anlässlich einer Prozession am Bartholomäustag (24. August) zu öffentlichen Demonstrationen im reformatorischen Sinne. Jetzt brach dann allerdings der Widerstand des altgläubigen Stadtregiments erstaunlich schnell zusammen: bereits nach einem Vierteljahr hatte sich der neue Glaube in Göttingen durchgesetzt, und am 24. Oktober 1529 konnte Pfarrer Friedrich Hüventhal in der großen Kirche des Paulinerklosters gegen den Willen der Mönche den ersten regulären evangelischen Gottesdienst abhalten. Am 10. April 1530, dem Palmsonntag, wurde die neue evangelische Kirchenordnung feierlich von den Kanzeln verkündet |
Die Einführung der Reformation schwächte wiederum die Stellung des Rates auch in seinem politischen Konflikt mit den Gilden und Innungen, so dass schließlich in der Mitte des 16. Jahrhunderts die Stadtverfassung tiefgreifend umgestaltet wurde. Die Vorherrschaft in Bürgerschaft und Rat lag nun für etwa hundert Jahre bei den Handwerkergilden. Der fortschreitende wirtschaftliche Niedergang und der weiterschwelende Konflikt zwischen Gilden und alten ratsfähigen Geschlechtern bot dem Herzog aber immer wieder willkommene Gelegenheiten für Eingriffe in die Stadtverfassung. Das definitive Ende der alten städtischen Autonomie und die Durchsetzung der absoluten Herrschaft des Landesherrn Herzog Ernst August war dann mit dem sogenannten Stadtrezess vom 13. Januar 1690 erreicht. Der Rat wurde jetzt faktisch zu einem fürstlichen Verwaltungsorgan umgestaltet, das fortan kontinuierlich amtierte und dessen Mitglieder vom Landesherrn ernannt wurden. Die jahrhundertealte Tradition der Ratswahl war zu Ende. Die Gilden allerdings hielten an der Wahl ihrer Obermeister fest, und es gelang ihnen, dieses Recht in den folgenden Jahrhunderten zu bewahren und mit kurzen Unterbrechungen bis auf den heutigen Tag auszuüben. |
Die größte Katastrophe für die Menschen des 17. Jahrhunderts war der Dreißigjährige Krieg zwischen 1618 und 1648. Nachdem die ersten Jahre für Göttingen noch vergleichsweise ruhig verlaufen waren, stiegen Belastungen und Bedrohungen seit 1625 drastisch an und erreichten in der Belagerung durch den kaiserlichen Feldherrn Johann Graf Tilly einen ersten Höhepunkt. Um den hartnäckigen Widerstand der städtischen Garnison zu brechen, ließ Tilly u. a. durch Harzer Bergleute die Leine umleiten und die Stadt über längere Zeit hin beschießen, bevor er am 2. August 1626 siegreich einmarschieren konnte. Eine zweite Belagerung, Erstürmung und Plünderung mit wohl noch härteren Folgen musste die Stadt im Februar 1632 durch den in schwedischen Diensten stehenden Herzog Wilhelm von Sachsen-Weimar erdulden. Diesmal kam es zu heftigen Straßenkämpfen, die kaiserlichen Truppen zogen sich unter energischem Widerstand in das Rathaus zurück und ergaben sich dort erst nach harten Gefechten, an die noch heute der Name der "Blutkammer", eines Raumes über der Rathauslaube, erinnert. Bei diesen Kämpfen wurde im übrigen auch das Stadtarchiv verwüstet, glücklicherweise jedoch ohne größere Verluste zu erleiden. Am Ende des Krieges waren zahlreiche Häuser in Göttingen schwer beschädigt oder gar völlig zerstört, die Einwohnerzahl war zwar nicht allzu sehr gesunken, dafür waren die Menschen aber vielfach gesellschaftlich entwurzelt, seelisch gezeichnet und wirtschaftlich in den Ruin getrieben. |
Denn der Krieg beschleunigte den wirtschaftliche Niedergang und der hatte gegen Ende des 17. Jahrhunderts seinen Tiefpunkt erreicht. Zu dieser Zeit lassen sich allerdings auch - nicht zuletzt als Folge gezielter staatlicher Fördermaßnahmen - erste Anzeichen eines Wiederaufschwungs erkennen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebte dann vor allem die Göttinger Textilindustrie eine neue Blüte. Unternehmer wie der 1711 nach Göttingen gekommene Tuchfabrikant Johann Heinrich Grätzel führten Göttingen in das Zeitalter der vorindustriellen Manufakturproduktion. Vom Selbstbewusstein dieser frühen Unternehmer zeugt das eindrucksvolle Barockpalais das sich Grätzel nach 1739 am Eingang der heutigen Goetheallee errichten ließ. |
(Auszug aus: Ernst Böhme: Göttingen: kleiner Führer durch die Stadtgeschichte) |