Ausgangslage und Übergang in die Illegalität
Dass bereits seit einigen Jahren zumindest ihr politischer Gegner, die Göttinger Nationalsozialisten, über Mitglieder und Organisation grob im Bild waren, war den Göttinger ISK'lern sicherlich bekannt. 1926 hatte August Heißmeyer (baute ab 1926 den SA-Gausturm Hannover-Süd auf, wechselte später zur SS und war ab 1935 Chef des SS-Hauptamtes, der Verwaltungszentrale für alle SS-Einheiten mit Ausnahme des SD1) einen Bericht über den ISK verfasst (Bericht PDF). Dessen Tenor war die Mahnung, den ISK als politischen Gegner ernst zu nehmen. Denn: Das Wesentliche und damit zugleich das Gefährliche und Verbrecherische dieses Mannes (Nelson) ist, daß er sich nicht mit der Lehre allein begnügt, sondern sofort zur Tat geschritten ist, zur praktischen Verwirklichung seiner Gedanken.2
Für den Fall der Konfrontation mit der Staatsmacht bereitete der ISK seine Mitglieder so gut es ging vor. Nachdem im Sommer 1927 der Kurs über Bessere Sicherheit grundsätzliches vermittelte3, folgte im November eine erneute Schulung zu dem Thema Verhalten bei Haussuchungen.4 Gegen Ende der Weimarer Republik schulte man mit verschiedenem Material auch Mitglieder befreundeter Organisationen, wie der Freidenker als Vorbereitung auf Verhaftung und Durchsuchungen. (Merkblätter PDF)
Ein Geheimnis sollte man aber nicht machen aus seiner politischen Überzeugung. Willi Eichler schrieb am 12.3.1930 an die Ortsvereinsvorsitzenden (OVV), meinte also durchaus nicht nur die Göttinger Genossen: Nach wie vor behandeln manche unserer Genossen es als ihr persönliches Geheimnis, dass sie etwas von der Existenz des ISK wissen, und sie hüten sich streng, Außenstehenden etwas davon mitzuteilen. Ich kann nur immer wieder um etwas Mut in dieser Angelegenheit bitten, umsomehr als wir allen Grund haben, auf die äußeren Erfolge der ISK-Arbeit mit einem gewissen Stolz zu blicken.5 Dazu gehörte durchaus auch die Verwendung von Symbolen. Wiederum in einem Brief erinnert Eichler an unser schönes ISK-Zeichen, von dem Wettig (Oskar Wettig, in dessen Druckerei auch die Broschüre isk hergestellt wurde) Matern in verschiedenen Größen kostenlos liefere, das aber leider nicht benutzt würde.
Über organisatorische Fragen bewahrte man Stillschweigen, auch gegenüber offiziellen Stellen. Dem Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände trat der ISK nicht bei, um dem Minister des Innern Zahl und Alter der M(itglieder) des ISK und noch viele andere innere Angelegenheiten des ISK nicht mitzuteilen.6
Trotz des Stolzes auf die eigenen Leistungen machte man sich in der Folgezeit beim ISK Gedanken über die unnötige Verbreitung von organisatorischem Insiderwissen. Willi Eichler mahnte in einem Brief vom 27.5.1931 an die Ortsvereinsvorsitzenden grundsätzliche Regeln der Verschwiegenheit an: Es mehren sich die Fälle, in denen die intimsten organisatorischen Angelegenheiten auf Postkarten von den ISK-Genossen erörtert werden. Ich sehe die Zeit kommen, wo wir im ISK verbieten müssen, Postkarten zu benutzen.7
Für die Göttinger war der Umzug der „Funkenmannschaft“ nach Berlin eine schwere Probe. Bereits 1931 war die Harmonie der Ortsgruppe gestört durch persönliche Reibereien, Mißtrauen, (und) auseinandergehende Interessen, wie der OVV Albert Steen im Frühjahr 1932 schrieb. Er führte weiter aus: Zeitweise fühlte man eine Kluft zwischen Arbeitern und „Intellektuellen“, dann wieder störte eine ausgesprochene Feindschaft zwischen einzelnen Mitgliedern. Das ist mit dem Scheiden der „67er“ eher schlimmer als besser geworden. Die Feindseligkeiten werden auf die Spitze getrieben (etwa im Fall Schmalz-Helmbrecht) und es fehlt die moralische Autorität, die beruhigen und schlichten kann. Eine gewisse Gereiztheit, die nicht auf Überlastung mit Arbeit zurückzuführen ist, ist fast allgemein da. Steen wünschte sich, daß die Genossen zwischen persönlichen und politischen Dingen scheiden lernen. Darunter litten auch gemeinsame Rituale. Steen schrieb weiter: Ich habe absichtlich gewartet, ob jemand den Vorschlag einer gemeinsamen Weihnachts- oder Sylvesterfeier machen würde. Da nur A. (Anni) Schmidt mit einem solchen Vorschlag an mich herangetreten ist und ich von mir aus nichts unternehmen wollte, haben wir keine Feier veranstaltet.8
Steen beklagte in seinem Bericht auch die hohe Arbeitsbelastung durch den Weggang der Genossen nach Berlin. Deswegen sei die Arbeit mit den Freidenkern zurückgefahren. Und auch sein Stellvertreter (Rudolf Küchemann) sei so überlastet, dass er seine Aufgaben in dieser Funktion kaum wahrnehmen könne.
In Göttingen, der Gauhauptstadt des Gaues Südhannover-Braunschweig erreichte die NSDAP in der Juli-Wahl 1932 die absolute Mehrheit mit 51 %. Im August beruhigte Willi Eichler die Genossen, die bereits an Auswanderung dachten: Wir sind vorläufig noch nicht der Meinung, dass ein Grund vorhanden ist, Deutschland zu verlassen. Wir wollen uns auf Vorsichtsmaßnahmen beschränken, die bei gelegentlichen Treffen (…) erörtert wurden. Die ISK'ler, die sich illegal bewaffneten, müssten mit sofortigem Ausschluss rechnen.9
Bereits ab Herbst begann der Ortsverein Göttingen mit der Umstellung auf die Illegalität. Zumindest die Mitgliedsbücher wurden verbrannt, die ISK-Schriften teilweise ausgelagert.10 Allerdings stand es um die Situation der Göttinger Ortsgruppe nicht gut. Die Auseinandersetzungen nahmen gegen Jahresende eher zu, Konflikte zwischen Rudolf Küchemann und Fritz Schmalz sprangen auf andere über und drangen auch an die Öffentlichkeit.11 (Brief Schmalz an Eichler PDF)
1933
Eine Woche nach der Machtübertragung wandte sich Eichler mit einer Einschätzung an die OVV. Illusionen über das Vorgehen der neuen Machthaber machte er sich nicht und rechnete bereits mit einer längeren nationalsozialistischen Diktaturperiode.12 Die Frage der Machtergreifung des Faschismus und seine Verhinderung hat sich inzwischen so beantwortet, wie wir das erwartet haben. (…) Wir müssen unabhängig von unserer Arbeit damit rechnen, dass sowohl der „ISK“ (Broschüre, RD) als auch der „Funke“, als auch der ISK (Organisation, RD) später verboten werden. Wir müssen sogar weiter damit rechnen, dass in einer solchen Zeit nicht unbedingt (…) eine schriftliche Verständigung aller in Frage kommenden Ff (Funktionäre, RD) untereinander möglich sein wird.
Selbstverständlich soll in dieser Zeit die politische Tätigkeit keines Genossen ruhen. Wo nichts direktes von Seiten der Bundes-Ff ihn erreicht, soll er sich, wie bereits früher besprochen, an die Parolen der Freien Gewerkschaften halten. (…) Wir werden selbstverständlich mit allen Kräften versuchen, einen Verkehr aufrechtzuerhalten. (…) Natürlich geben wir keine einzige Arbeitsmöglichkeit auf, bevor wir nicht mit Gewalt daran gehindert werden, sie zu benutzen.
Speziell über den Göttinger Ortsverein schrieb er weiter: Der Göttinger OV ist leider durch Nachlässigkeiten und Mängel verschiedener Art bei einem erheblichen Teil der Göttinger Genossen auf ein so niedriges Maß von organisatorischer Schlagkraft gesunken, dass wir uns entschlossen haben, ihn bis auf weiteres nur als AG zu führen. Ich will hier in aller Kürze darüber nur mitteilen, dass es bisher den führenden Ff nicht gelungen ist, sich über einige Fragen der politischen Arbeit und des politischen Auftretens zu verständigen. Diese Genossen gingen soweit auseinander, dass sie ihre Kontroversen geradezu öffentlich austrugen und der eine den anderen öffentlich desavouierte.13
14
Tage später wandte sich Eichler erneut an die OVV, um auf die
Wichtigkeit der Vorbereitungen für die anstehende Wahl am 5.
März hinzuweisen: Für
die Wahlen am 5. März wollen wir, wo wir nicht ganz sicher sind,
dass die Wahllokale nicht von Nazis oder ähnlichen Zeitgenossen
belagert sind, Wahlscheine nehmen, damit wir in allen Wahllokalen
wählen können.
(…)
Ich bitte, alle Genossen noch einmal ernsthaft darauf hinzuweisen,
dass sie ihre Papiere daraufhin durchsehen sollen, ob irgendwelche
Sammlungen von Adressen sich darin befinden. Es kommt nicht so sehr
darauf an, jeden Brief wegzuwerfen. Alle Zusammenstellungen, die ihr
erhalten habt oder alle anderen Papiere, aus denen die OV in ihrer
Gesamtheit zu ersehen sind, werft bitte fort.14
Anfang März 1933 legt Eichler noch einmal einige Verhaltensregeln fest: (…) Innerhalb Preußens ist vorläufig Propaganda gegen den Faschismus auf mündliche Arbeit beschränkt. Wir wollen diese Möglichkeit selbstverständlich nicht unausgenutzt lassen, vor allem nicht in Bezug auf die Diskussion der gottsjämmerlichen Schlamperei innerhalb der Politik der grossen Arbeiterparteien. (…) Wir wählen auf jeden Fall die am weitesten links stehende Liste. (…) Wo die Möglichkeit besteht, sollen die Genossen eine ausländische Zeitung lesen; ernsthafte Ausländer halten die Zustände in Deutschland für genauso elend wie wir. Organisatorische Arbeiten wollen wir in den einzelnen Gruppen selbstverständlich weitgehend aufrechterhalten, wie es durch Kurse und ähnliche Veranstaltungen ja auch bedingt wird. Regelmässige Berichte und Antworten zwischen den Gruppen und der Leitung fallen bis auf weiteres fort und zwar schon vom 4. März ab.15
Die organisatorischen Maßnahmen des ISK entsprachen den Erkenntnissen, die man Anfang März 1933 in Deutschland als linke Gruppierung ziehen konnte: die Ortsvereine bereiteten die weitere Umstellung auf die erwartete Illegalität vor.
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Quellen und Literatur
Haase, Ludolf (1942): Durchbruch in Niedersachsen. Der Kampf der N.S.D.A.P. 1921/24. 2. vermehrte und verbesserte Niederschrift.
Höhne, Heinz (2008): Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS. München: Bassermann.
Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Briefe, Berichte 1929-33. Archiv der sozialen Demokratie.
Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Briefe, Berichte 1930-33. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000012.
Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Berichte 1931. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000021.
Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1927. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00014.
Link, Werner (1964): Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK): ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Meisenheim am Glan (Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft).
1Höhne 2008, S. 136–137.
2Haase 1942, S. 596, Geheimbericht August Heißmeyer 1926.
3Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 7, Monatsbericht Juli 1927.
4Ebenda, S. 10, Monatsbericht Dezember 1927.
5Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 3, 12.3.1930, Willi Eichler an OVV.
6Ebenda, S. 4, 10.4.1930 Willi Eichler an OVV.
7Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 15, 27.5.1931, Willi Eichler an OVV.
8Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 4, 4.1.1932, Vierteljahresbericht Albert stehen.
9Ebenda, S. 27, 14.8.1932, Eichler an OVV des ISK.
10Link 1964, S. 173, nach Aussagen von Fritz Körber (7.9.1959).
11Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 5, 3.12.1932, Fritz Schmalz an Eichler, Konflikt OV Gö.
12Link 1964, S. 173.
13Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 32, 8.2.1933, Eichler an die OVV des ISK.
14Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 34, 22.2.1933, Willi Eichler an die OVV.
15Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 35, 1.3.1933, Willi Eichler.
Rainer Driever