Rudolf Küchemann

wurde am 14.7.1884 in Lödingsen geboren. Seine Eltern waren der Lehrer Wilhelm Küchemann und Friederike (geb. Hartje, *12.6.1849 in Lödingsen). Er hatte noch drei ältere Geschwister und einen jüngeren Bruder, der allerdings früh starb. Küchemann besuchte die Volksschule Lödingsen, dann die Realschule in Adelebsen und schließlich die Kaiser Wilhelm II Realschule Göttingen von 1896-1900. Seine Ausbildung zum Lehrer begann in der Präparandenanstalt Einbeck 1900/1901, die Küchemann am Seminar Northeim von 1901-1904 fortführte. Parallel war er Gasthörer der Universität Göttingen. Seine Volksschullehrerprüfung legte er am 20.2.1904 in Northeim ab, die Mittelschulprüfung in Hannover vom 3.5.-2.6.1920.

Nach bestandener Prüfung arbeitete Küchemann 1904 zunächst in der Volksschule Arendshausen, wechselte 1905 an die Volksschule in Gerzen, Kr. Alfeld. Von 1905-1907 arbeitete Küchemann an der Volksschule Göttingen, von 1907-1910 an der Kaiser Wilhelm II Oberrealschule Göttingen. Dort arbeitete er bis zu seiner Suspendierung am 30.9.1933 als Oberschullehrer. Er heiratete 1910 Martha Egener (*1889), die Kinder der Küchemanns wurden ab 1911 geboren: Dietrich 11.9.1911, Friedeborg 23.9.16 (gest.), Charlotte 26.5.23. Die Familie wohnte bis März 1942 im Rosdorferweg 32, ab dem März 1942 in der Schillerstraße 5.

Küchemann leistete den einjährig-freiwilligen Militärdienst; aus dem Ersten Weltkrieg kam er als Oberleutnant zurück nach Göttingen. Sein ehemaliger Schüler, Walter Leßner, erinnerte sich: Er war vor dem Krieg schon Leutnant gewesen. An Kaisers Geburtstag saßen die Lehrer nach ihren militärischem Rang im Lehrerzimmer (während d. Krieges). So saß K., obwohl er von der akadem. Ausbildung her nur Volksschullehrer war und nicht Studienrat, gleich neben dem Direktor, was seine Kollegen sehr verärgerte.1

Vor 1914 war er Ortsgruppenvorsitzender des Nationalliberalen Jugendvereins, ab 1918 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und ab 1923 Mitglied der SPD. 1921 hatte er den ersten Kontakt mit Leonard Nelson, der Kolloquien für Lehrer in seinem Wohnhaus im Nikolausberger Weg 61 abhielt.2 Küchemann trat spätestens 1924 in den IJB ein und vollzog den Wechsel der gleichzeitig zur SPD gehörenden Mitglieder zum ISK. Der Lehrerkampfbund (LKB) wurde 1924 gegründet, sein erster Vorsitzender wurde Rudolf Küchemann.3

Über seine Motivation schreibt er in einer Selbstauskunft im November 1924: (…) Nach dem Kriege (…) gelang es mir, für die Schule ein Landheim zu gründen, in dem meiner Meinung (nach) gute Erziehungsarbeit geleistet werden konnte. Es ist daher für mich nicht so leicht gewesen, mich für die Verwirklichung des politischen Ideals einzusetzen. Möglich war das nur dadurch, daß durch Nelson und die Arbeit mit ihm Klarheit in meine Gedanken kam. (…) Mein Plan geht dahin, innerhalb der Volksschullehrerschaft die aktiven Elemente zu sammeln und zu organisieren.4

Dies versuchte er im Rahmen des Lehrerkampfbundes (LKB), der die Themen des ISK in die pädagogische Arbeit einbrachte. (Lehrerkampfbund)

Die Mitgliedschaft im ISK setzte den Kirchenaustritt voraus. Dies sollte noch 1932 für Erna Siem und Maria Kneisel an der evangelischen Mädchen-Mittelschule ein Problem werden. Rudolf Küchemann wurde damit bereits 1924 konfrontiert. Walter Leßner darüber: (Dann) kam aus der Bürgerschaft (dahinter standen die Kirchenvorstände) der Wunsch, Küchemann und Dreves (gemeint hier: Heinrich Breves, ebenfalls ISK-Mitglied) aus dem Schuldienst zu entlassen. Man ging mit einer Unterschriftenliste zu den Eltern aller Schüler, die bei K. Unterricht hatten. Küchemann ließ sich von dieser Aktion gegen ihn nicht beeindrucken. Er konnte auch unbekümmerter sein, da die Oberrealschule, an der er unterrichtete, keine Bekenntnisschule war.

Seine Stellung als Lehrer war prominent. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Göttinger Eltern weiterhin Sorgen über seine politische Orientierung machten. Noch einmal sein ehemaliger Schüler Leßner dazu: In den 20iger und zu Beginn der 30iger Jahre hatte die Göttinger Bevölkerung eine negative Einstellung zum ISK. Angesehene Bürger kamen so zum sonst hoch respektierten Küchemann und wollten ihn dazu bewegen, aus dem ISK auszutreten.5

Als Lehrer bot Rudolf Küchemann auch außerschulische Schülerübungen innerhalb des ISK-Programms an. Von einer kennen wir noch das Thema: Dürfen wir auf der Wanderung Äpfel klauen? am 3.10.1929. Schüler der Oberrealschule in Göttingen nahmen daran teil. Es ging dabei um ein zentrales Thema des ISK: Die dialogische Überprüfung von Gründen für Handlungen nach der sokratischen Methode.6

Die Aufgaben als Lehrer, Mitglied im ISK und Leiter des LKB waren vielfältig und zeitraubend. Dass Küchemann im Herbst 1931 auch noch als stellvertretender Ortsvereinsvorsitzender fungierte, muss der sowieso knappen Personaldecke in dieser Zeit zugeschrieben werden (Vorbereitung Tageszeitung+Umzug nach Berlin).7

Ab dem Herbst 1932 eskalierten einige persönliche Konflikte in den Reihen der Ortsgruppe, so der zwischen Rudolf Küchemann und Fritz Schmalz. In einem Brief schilderte Schmalz die Sache Willi Eichler: Küchemann wolle bei allen Mitgliedern des OV (...) die Bürgschaft für die Erneuerung der Mitgliedschaft übernehmen, für mich lehne er das ab. (…) In der Mitgliederversammlung am 24.11. habe ich schon meinen Verdacht ausgesprochen, daß ich aus dem ISK herausmanövriert werden solle. Das wurde zwar entrüstet zurückgewiesen, bestätigt sich jetzt aber.8

Am 12. April 1933 erscheint Küchemann im ISK-Bericht des Kriminalsekretärs Griethe unter der Anzahl intelligenter Personen, darunter auch Lehrer und Lehrerinnen zusammen mit seinem Bruder Hermann, Heinrich Düker, Elsa Adomeit, Maria Kneisel, und Erna Siem.9 (Polizeibericht PDF)

Am 10.4.1933, drei Tage nach Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, schrieb der stellvertretende Vorsitzende der NSDAP-Ratsfraktion Ambronn eine Vorlage an den Magistrat, in der er die Entlassung der dem ISK nahestehenden Lehrer forderte.10 (ISK Göttingen 1933-1935)

Küchemann wurde am 1.10.1933 aufgrund des § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums als staatsfeindliche Person in den Ruhestand versetzt. (Gesetz PDF) Beteiligt an der illegalen Arbeit der Ortsgruppe des ISK hat er sich anscheinend nicht. Lediglich eine Auskunft der Ortspolizei zu einer Anfrage der Stapo-Stelle Hannover zu seinem Sohn Dietrich vom 14.12.1934 ist überliefert. Darin wurde diesem bescheinigt, in strafrechtlicher, politischer und spionagepolizeilicher Hinsicht noch nicht bekannt geworden zu sein.11

Lange Zeit verdiente Rudolf Küchemann seinen Lebensunterhalt mit Privatstunden. Am 15.9.1943 wurde er vorübergehend wieder eingestellt, es fehlte kriegsbedingt an Lehrern.12 Er sollte bis zu seiner Pensionierung am 30.9.49 an der Göttingen Oberschule für Jungen, nach dem Krieg Felix-Klein-Gymnasium, als Lehrer arbeiten.13

Im November 1946 nahm er an der ersten Ratssitzung des von den Alliierten eingesetzten Rates als Mitglied der SPD teil.14 Hannah Vogt erinnerte sich: Nach 1945 haben wir sehr intensiv mit dem Lehrer Küchemann diskutiert. Bei ihm fand sich wieder alles zusammen, was sich aus den Trümmern gerettet hatte, und suchte ein neues Fundament.15

In seinem Unterricht kam er mitunter auf alte ISK-Themen zurück, die inzwischen aber eine Metamorphose durch 20 Jahre politischer Entwicklung durchlaufen hatten. So vermerkte er im November 1947 zu einer Deutschstunde in einer 11. Klasse: Gelesen wird eins der Schriftchen von Nelson, (...). Dabei wird der erste Satz des Erfurter Programms der SPD erörtert. (…) Ein sehr gewandter Schüler spricht über den Zusammenhang.16 Eineinhalb Jahre später zog sich Küchemann den Zorn der Deutschen Rechtspartei zu (einer konservativen Vereinigung, die in der britischen Besatzungszone bis 1951 vertreten war). In einem Antrag für eine Ratssitzung am 12.4.1949 formulierte sie ihre Vorwürfe gegen Küchemann. Gegenstand war eine Aufnahmeprüfung für die Oberschule für Jungen, bei der Küchemann einen Großteil der Fragen formuliert hatte. Die Rechtspartei bemängelte, dass bei den Prüflingen eine Auslese nach parteipolitischen Gesichtspunkten vorgenommen wurde. Die Fragen lauteten:
Wer ist schuld am Kriege?
Hast du schon einmal ein Führerbild gesehen?
Was haben dir deine Eltern von Rußland erzählt?
Kennst du eine Partei, wenn ja, welche?
Möchtest du Soldat werden, warum bezw. warum nicht?
(…)
Die Rechtspartei führte weiter aus:
In der Bevölkerung ist verständlicherweise Unruhe über das Vorgehen der Schulbehörde entstanden. Es ist offensichtlich, daß von Schulseite beabsichtigt war, bei den neun- und zehnjährigen Anwärtern eine politische Auslese durchzuführen. Das System des politischen Fragebogens wurde hier auch auf Kinder übertragen.
17

Rudolf Küchemann starb am 15.8.1950 in Göttingen.18



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Literatur und Quellen

Anfragen und Beobachtungen über Personen in politischer Hinsicht: Personenbeobachtung. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 31a, Nr. 14.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Druckschriften / Verschiedene Stücke: Übungen und AGs. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000109.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Briefe, Berichte 1929-33. Archiv der sozialen Demokratie.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Berichte 1931. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000021.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Personalarchiv A: Personalunterlagen. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000067.

Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK). Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 155, Nr. 5.

Interview mit Hannah Vogt (31.03.1976). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I, Nr. 99a.

Karteikarten Popplow-Box. Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 II, Nr. 110.

Rohrbach, Rainer (1985): „… damit radikale Elemente zurückgedrängt werden.“ Gewerkschaften und Parteien in den Jahren 1945 und 1946. In: Hans-Georg Schmeling (Hg.): Göttingen 1945: Kriegsende und Neubeginn: Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum, 31. März - 28. Juli 1985. Göttingen: Kulturdezernat, S. 317–349.

Rudolf Küchemann: Oberschullehrer, Dienstort Göttingen, aufgrund § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 in den Ruhestand versetzt. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 120 Hannover Acc. 24/85 Nr. 239.

Rüther, Martin (1998): Deutschland im ersten Nachkriegsjahr: Berichte von Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) aus dem besetzten Deutschland 1945/46. Unter Mitarbeit von Uwe Schütz und Otto Dahn (Hrsg.). München: Saur (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte).

Schulakte Erna Siem: ISK-Lehrer. Stadtarchiv Göttingen, Schulverwaltungsamt C 44, Lehrerpersonalakte: Erna Siem.



1Karteikarten Popplow-Box, S. 21, Walter Leßner.

2Ebenda.

3Rüther 1998, S. 597.

4Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Personalarchiv A, S. 4, 14.11.1924 Lebenslauf Rudolf Küchemann.

5Karteikarten Popplow-Box, S. 21, Walter Leßner.

6Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Druckschriften / Verschiedene Stücke, S. 1, 3.10.1929 Protokoll Schülerübung.

7Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand, S. 4, 4.1.1932 Vierteljahresbericht 4/931 Albert Steen.

8Ebenda, S. 5, 3.12.1932 - Fritz Schmalz an Eichler, Konflikt OV Gö.

9Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), S. 74, 12.4.1933.

10Schulakte Erna Siem, S. 13, 10.4.1933 - Dr. Ambronn als stellv. Vorsitzender der NSDAP-Fraktion - Stellungnahme ISK-Lehrer, Bl. 54.

11Anfragen und Beobachtungen über Personen in politischer Hinsicht, S. 172–173, 14.12.1934 - Ortspolizei an Stapo-Stelle Hannover, Personenauskünfte.

12Rudolf Küchemann, S. 3, 20.10.1943 - Vereidigungsnachweis.

13Ebenda, S. 13, 5.7.1949 - an die Stadt Göttingen.

14Rohrbach 1985, S. 321, erste Ratssitzung am 23.11.1945.

15Interview mit Hannah Vogt 31.03.1976, S. 5, Augenzeugenbefragung Hannah Vogt, 31.3.1976.

16Rudolf Küchemann, S. 11, 12.11.1947 - Vermerk Küchemann.

17Ebenda, S. 12, 12.4.1949 - Deutsche Rechtspartei Antrag für die Ratssitzung.

18Ebenda, S. 14, Stadt Göttingen Personalamt.

Rainer Driever