Familien

Der „Normalfall“ war der verhaftete Familienvater, der für kürzere (Schutzhaft) oder auch längere Zeit (Verurteilung) der Familie fernblieb. Dieser konnte im Gefängnis, für die Göttinger Inhaftierten meist Kassel, Hannover oder Hameln, besucht werden. Je nach Lage der Familie gelang dies mehr oder weniger gut, d.h. häufig. So konnte Frieda Ilse ihren Mann Karl (Haft 17.11.1939 – 28.12.1941, danach Konzentrationslager Karl Ilse) im Strafgefängnis Hameln vom Januar bis September 1940 sechsmal besuchen,1 für 1941 ist nur ein Besuch überliefert, was auch an Karl Ilses Beschäftigung als Maler in Neustadt und Bremervörde gelegen haben mag.2 Solche Besuche waren für die Inhaftierten umso wichtiger, je länger ihre Haft war. Heinrich Düker (Heinrich Düker) erinnerte sich, wie sehr er sich stets auf die monatlichen Besuche seines Freundes Paul Dohrmann gefreut hatte, eines Lehrers aus Hannover.

Manchmal gelang dies nicht. Georg Geiser (Georg Geiser) verbrachte seinen zweiten Gefängnisaufenthalt 1936 in Hannover. Er war ledig und bat um seine Verlegung nach Göttingen. Seine Eltern waren nicht in der Lage, das Geld für eine Fahrt nach Hannover aufzubringen, um einen Besuch zu machen.3

Die Familien der Inhaftierten wurden häufig von der Gestapo beobachtet. Mitunter lasteten auf den Ehefrauen zusätzlich Verhöre, wie z.B. auf Hulda Eglinsky (Hulda Eglinsky ). Sie hatte ihren Mann Willi in einer „Haftpause“ im Herbst 1934 geheiratet, er war ab Frühjahr 1935 bis zum Kriegsende in politischer Haft. Hulda wurde öfter in die Stapo-Außendienststelle Göttingen zum Verhör geladen und dort immer wieder bedrängt, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen.4

Dieser Druck traf auch Katharina Scharf, die Frau des Hann. Mündener Kommunisten Bernhard Scharf. Dieser wurde Opfer der Verhaftungsaktionen im Herbst 1935 in Münden und verbrachte die Zeit bis zum Kriegsende in Haft. (Bernhard Scharf PDF) Die 1928 geschlossene Ehe der beiden wurde im September 1942 – vermutlich auf Druck – geschieden, am 8.12.1945 erneuerten beide die Ehe.5

Mitunter waren mehrere Mitglieder einer Familie inhaftiert. Hulda Vogt wurde einen Tag vor ihrem Verlobten Wilhelm Eglinsky (Wilhelm Eglinsky ) Anfang September 1933 verhaftet. Huldas Bruder Friedrich (Friedrich Vogt) wurde am 8.5.1933 verhaftet und zunächst im Gerichtsgefängnis in Northeim, dann in den Konzentrationslagern Moringen und Oranienburg bis Ende 1934 inhaftiert.6 Huldas Vater Albert wurde am 20.1.1936 verhaftet und am 8.4.1936 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.7

Emma Smyk war die Frau des Bergmannes Johann Smyk aus Hann Münden, der 1933 Schutzhäftling war und 1936 wegen Hochverrats verurteilt wurde. Er verbrachte mehr als 5 Jahre in Haft und im Konzentrationslager Buchenwald. Ab dem 16.6.1943 wurde er zum Dienst im Bewährungsbataillon 999 gezwungen.8 Emmas Vater Heinrich sowie ihre Brüder Heinrich und Richard wurden 1936 in Kassel verurteilt.9 Für Göttingen ist die Verurteilung des Ehepaars Karl und Luise Meyer 1937 ein eindringliches Beispiel für die Verhaftungen von mehreren Mitgliedern einer Familie.

Frau und Kinder der Inhaftierten, manchmal auch die Verwandtschaft, lebten – vor allem in kleineren Orten – oft in einem Klima der Ausgrenzung. Friedrich Vogt, ein Kommunist aus Nörten-Hardenberg, erinnerte sich: In der Gemeindeliste waren wir als Rote gekennzeichnet. Als ich in Moringen saß (bis zur Auflösung des Männerlagers im Herbst 1933, R.D.), brannte hier eine Scheune ab. Man wollte meiner Frau und meinem Bruder die Schuld geben. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, wäre ich dran gewesen. Das konnte ständig wieder passieren. Auch wenn sich nachher herausstellte, daß der SA-Mann die Scheune selbst angesteckt hatte, wäre der Verdacht sofort auf mich gefallen. Die Angst war da.10

Diese Ausgrenzung traf auch Kinder. Die sechsjährige Anita Domeier erlebte 1937 die Verhaftung ihres Vaters in Katlenburg. Am 4. Juni 1937 wurde Domeier als Drahtzieher einer Gemeinschaft von Zeugen Jehovas zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.11 Anita Domeier erinnerte sich: Für mich und meine Mutter begann eine harte Zeit. Da wir schon bis dahin mit wenigem Geld auskommen mussten, bekamen wir jetzt garnichts mehr. Dazu kam noch das ständige Hänseln, dein Vater ist im Gefängnis. Zu dieser Zeit kam ich in die Schule und habe Geistig (!) viel darunter gelitten. Sehr oft wurde in der Schule über Verräter und Volksfeinde gesprochen, wo dann auch der Name Domeier erwähnt wurde. So wurden wir überall gemieden und verachtet. Da meine Mutter von keiner Seite Unterstützung oder Arbeit bekam, und uns das Leben so schwer gemacht wurde, (musste) sich meine Mutter 1939 scheiden lassen. Nach der Scheidung zogen wir wieder nach Haan, wo meine Mutter in einer kleinen Fabrik Arbeit fand. Aber auch hier war der Name Domeier noch wie ein rotes Tuch bekannt. Wenn sie es damals gekonnt hätten, hätten sie mir den Namen Domeier noch abgeschrieben. Denn bei jeder sich bietenden Gelegenheit hiess es, dein Vater ist ein Volksfeind Kommunist, Jude, Volksverräter, der muss an die Wand gestellt werden.12

Gerhard König war der Sohn des Bäckermeisters Wilhelm König (Wilhelm König) aus Großlengden. Sein Vater saß als Zeuge Jehovas von 1937 bis 1940 in verschiedenen Strafgefängnissen. Haussuchung nach verbotenen Schriften und Erkundigungen über die schulische Führung des Sohnes Gerhard (mit der Drohung, ihn aus der Familie zu holen, da eine nationalsozialistische Erziehung dort nicht gewährleistet war) schufen ein Klima permanenter Unsicherheit. Gerhard König verbrachte deshalb 4 ½ Jahre bei der Schwester seiner Mutter in Bad Harzburg. Nach seiner Rückkehr half er im elterlichen Betrieb. Eigentlich wollte Gerhard König Medizin studieren.13

Zu diesen Konsequenzen der Inhaftierung traten noch die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten hinzu. Bestand das Familieneinkommen aus Arbeitslosenunterstützung, fiel diese während der Haftzeiten weg. Wie heute auch, war man arbeitslos, wenn man dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stand. Die Familie, meist die Mutter mit ihren Kindern, musste in diesem Fall Unterstützung bei der Fürsorge beantragen.14



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Literatur und Quellen

Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt (13.01.1977). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I, Nr. 98.

Marc Schmidtchen (o.J.): Biografie von Karl Domeier. Jehovas Zeugen, Geschichtsarchiv, Selters/TS.

Entschädigungsakte Eglinsky, Willi: VVN - Eglinsky. Archiv des VVN-BdA Niedersachsen e.V., Fach 12, Nr. 96.

Entschädigungsakte Koch, Anita (Karl Domeier, Bibelforscher): VVN Domeier. Archiv des VVN-BdA Niedersachsen e.V., Fach 40, Nr. 355.

Entschädigungsakte Koenig, Gerhard: VVN König, Gerhard. Archiv des VVN-BdA Niedersachsen e.V., Fach 41, Nr. 362.

Entschädigungsakte Scharf, Katharina: VVN Scharf, Katharina. Archiv des VVN-BdA Niedersachsen e.V., Fach 74, Nr. 681.

Entschädigungsakte Smyk, Johann: VVN Smyk, Johann. Archiv des VVN-BdA Niedersachsen e.V., Fach 73, Nr. 674.

Gefangenenpersonalakte Georg Geiser: Strafgefängnis Hameln. Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 86a Hannover Acc. 2000/057 Nr. 234.

Gefangenenpersonalakte Karl Ilse: Strafgefängnis Hameln. Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 86 Hameln Acc. 143/90 Nr. 3591.



1Gefangenenpersonalakte Karl Ilse, S. 41–47, Januar bis September 1940 – Besuchskontrolle.

2Ebenda, S. 13, 6.7.1941 – Besuchskontrolle Ilse.

3Gefangenenpersonalakte Georg Geiser, S. 3, 27.2.1936 – Brief Geiser aus Gerichtsgefängnis Hannover an Generalstaatsanwalt.

4Entschädigungsakte Eglinsky, S. 8, 16.2.1966 – Erklärung Heide Friedrich zu Eglinsky.

5Entschädigungsakte Scharf, S. 3, 1966 – Anlage zum Entschädigungsantrag Katharina Scharf.

6Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt, 13.01.1977, S. 5, 8 und 9.

7Gefangenenpersonalakte Wilhelm Franke, S. 14, 8.4.1936, Urteil des Strafsenats des Oberlandesgerichts Kassel gegen Franke u.a., Urteil S. 4.

8Entschädigungsakte Smyk, S. 1–2, 7.2.1951 Kreissonderhilfsausschuss Hann. Münden - Haftentschädigungsbescheid Smyk.

9Ebenda, S. 6, 25.12.1966 Emma Smyk, Kattenbühl 17, an Reg.Präs. Entschädigungsbehörde Hannover.

10Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt 13.01.1977, S. 21.

11Biografie von Karl Domeier und Marc Schmidtchen.

12Entschädigungsakte Koch, Anita (Karl Domeier, Bibelforscher), S. 1, 13.9.1966 VVn an Reg. Präs. Entschädigungssache Tochter Karl Domeier.

13Entschädigungsakte Koenig, S. 1, 8.3.1966 Gerhard König an Reg.Präs. Hannover, Entschädigungsbehörde.

14Göttinger Zeitung, 10.5.1933,Inhaftierte Arbeitslose.

Rainer Driever