Abriss der Stadtgeschichte |
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Trotz dieser unverkennbaren Wiederbelebung der städtischen Wirtschaft wird der entscheidende Wendepunkt im Schicksal der Stadt von einem anderen Ereignis markiert. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass kein Ereignis die Entwicklung Göttingens in neuerer Zeit so tiefgreifend beeinflusst hat wie die Gründung der Universität, die im Jahre 1737 feierlich eröffnet wurde. Seit diesem Zeitpunkt ist die Geschichte der Stadt nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Universität zu verstehen, ohne diese wäre jene, so wie sie heute ist, nicht denkbar. |
Der schnelle und durchschlagende Erfolg der Georgia Augusta - benannt nach dem damaligen Landesherrn König Georg II. August von England und Kurfürst von Hannover - beruhte auf dem weitblickend angelegten Konzept, das der eigentliche Gründer und spiritus rector der Universität, der hannoversche Staatsminister Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, verfolgte. Die Universität Göttingen war, um ein bekanntes Wort abzuwandeln, eine Hochschule neuen Typs: Nach dem Vorbild der wenige Jahrzehnte älteren Universität Halle sollte sie den Zielen der Aufklärung dienen. Dementsprechend verlor die theologische Fakultät ihre dominierende Rolle, die akademische Lehre erhielt einen hohen Stellenwert - die gezielt geförderte Bibliothek z.B. stand auch den Studenten offen - und gleichzeitig wurde die wissenschaftliche Forschung durch Befreiung von der theologischen Zensur gefördert. Für junge und zukunftsträchtige wissenschaftliche Disziplinen ließ Münchhausen Lehrstühle einrichten, auf die er planmäßig herausragende Vertreter ihres Faches berief. Aus der großen Zahl der z. T. weltberühmten Gelehrten, die damals und in den folgenden Jahrzehnten in Göttingen wirkten, seien nur einige genannt: der Arzt, Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller (1736-1756 in Göttingen), der Theologe und Orientalist Johann David Michaelis (1746-1791 in Göttingen), der Altertumswissenschaftler und Leiter der Universitätsbibliothek Christian Gottlob Heyne (1763-1812 in Göttingen), der Physiker, Philosoph und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1770-1791 in Göttingen) und der Publizist und Historiker August Ludwig von Schlözer (1769-1809 in Göttingen). Von Schlözer soll übrigens jener Wahlspruch stammen der den Eingang des Göttinger Ratskellers ziert: "Extra Gottingam non est vita, si est vita non est ita!" (Außerhalb Göttingens kann man nicht leben, wenn aber doch, dann nicht so gut!). |
Auf Betreiben Münchhausens war man von Anfang an bemüht, auch das kulturelle Angebot für Professoren und Studenten attraktiv zu gestalten. Ein markantes Zeichen dafür war der Universitätsreitstall, der als eines der ersten Universitätsgebäude zwischen 1734 und 1736 in schlichten Barockformen errichtet wurde und die Möglichkeit zu standesgemäßer Freizeitgestaltung bot. 1968 musste er gegen den heftigen Protest weiter Teile der Bevölkerung einem ganz anders gearteten Kaufhausneubau weichen. Ebenfalls der Verbesserung des "Freizeitwertes" der Stadt diente die seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 erfolgte Umgestaltung der Befestigungen zur Promenadenanlage des Walls. Überhaupt setzte sofort nach Gründung der Hochschule eine intensive Bautätigkeit ein, die das Gesicht Göttingens schnell und durchaus zu seinem Vorteil veränderte: als erstes wurde 1734-1737 das frühere Paulinerkloster für die Vorlesungen der Professoren zum Kollegiengebäude umgebaut, dessen Grundformen noch heute im alten Bibliothekskomplex zu erkennen sind. Es folgten u. a. 1737 die Londonschänke (heute Michaelishaus), 1739 die Universitätsapotheke am Markt, der um 1740 eingerichtete Botanische Garten und 1785-1790 an der Stelle des früheren Hospitals St. Crucis das sog. Accouchierhaus, in dem die 1751 gegründete erste Frauenklinik Deutschlands untergebracht wurde. Gleichzeitig wurden die Straßen ausgebaut und verbessert und insbesondere seit 1737 die Allee (heute Goetheallee) neu angelegt. "Die Stadt boomte" würde man heute sagen. |
Im Jahr 1800 war Göttingen wohl die berühmteste Universitätsstadt Deutschlands, wenn nicht sogar Europas. Von überall her zog es junge Menschen - ausschließlich Männer, das Frauenstudium lag noch in weiter Ferne - in unsere Stadt, die bei einer Einwohnerschaft von jetzt etwas über 8000 Personen immerhin fast 700 Studenten beherbergte. Nichts belegt das damalige Renommee der Georgia Augusta besser als die Worte, mit denen Johann Wolfgang von Goethe rückblickend seinen Wunsch beschreibt, an der Leine studieren zu können (Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, Sechstes Buch): "Bei diesen Gesinnungen hatte ich immer Göttingen im Auge. Auf Männer wie Heyne, Michaelis und so manchem anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken". Goethes Studienwunsch scheiterte zwar am Widerstand seines Vaters, allerdings hat sich der Dichter später mehrfach und gern in Göttingen aufgehalten. |
Um 1800 wurde Göttingen allerdings auch schon von den Auswirkungen der Französischen Revolution erfasst. Das Heilige Römische Reich und mit ihm das Kurfürstentum Hannover brach in den Napoleonischen Kriegen zusammen und Göttingen wurde Teil des 1807 gegründeten Königreiches Westfalen. Die innere Organisation dieses napoleonischen Musterstaates unter König Jérôme - einem Bruder Napoleons - folgte ohne Rücksicht auf die historisch gewachsenen Verhältnisse strikt dem französischen Vorbild. Göttingen z. B. wurde Hauptstadt des Leine-Départements, das sich von der Werra über Göttingen, Einbeck und Rinteln bis an die Weser nördlich von Minden erstreckte. |
Nach Napoleons Untergang erstand Hannover neu - diesmal als Königreich und Teil des Deutschen Bundes, der in den folgenden Jahrzehnten immer wieder von politischen und sozialen Unruhen erschüttert wurde, die auch Göttingen erfassten. Als Folge des Pariser Juli-Aufstandes von 1830 brach im Januar 1831 die sog. "Göttinger Revolution" aus, in deren Verlauf das Rathaus besetzt wurde und die nach einer Woche nur unter Androhung militärischer Gewalt niedergeschlagen werden konnte. Die wichtigste Errungenschaft dieser Revolution war eine neue Stadtverfassung, die im Oktober 1831 die alte Ratsordnung von 1690 ablöste. 1837 - im Jahr des hundertjährigen Universitätsjubiläums - stellten sich sieben Professoren der Georgia Augusta in einem Akt mutiger Zivilcourage - für deutsche Professoren keine Selbstverständlichkeit - öffentlich gegen ihren König Ernst August, dem sie den Bruch des hannoverschen Staatsgrundgesetzes vorwarfen. Der König antwortete mit drakonischen Strafen: die sog. Göttinger Sieben wurden ihres Amtes enthoben und teilweise des Landes verwiesen. Auch die Revolution von 1848 schlug in Göttingen mit Versammlungen, Aufrufen, der Bildung einer Bürgerwehr u. ä. beträchtliche Wellen, blieb jedoch ohne größeres Blutvergießen. |
Eine wichtige Folge der Achtundvierziger-Revolution war in Deutschland die rechtliche Gleichstellung der Juden. In den folgenden Jahrzehnten wuchs auch die Göttinger jüdische Gemeinde beträchtlich an, und Menschen jüdischen Glaubens begannen, nicht nur an der Universität und im geistigen und kulturellen Leben, sondern auch in Wirtschaft, in Handel und Gewerbe eine beachtliche Rolle zu spielen. 1870 war die alte Synagoge in der Prinzenstraße endgültig zu klein geworden, so dass an der Unteren-Masch-Straße ein Neubau errichtet wurde, der bereits 1895 erweitert werden musste. |
Die von vielen Deutschen ersehnte politische Einheit wurde durch Otto von Bismarck im Zeichen preußischer Hegemonie gewaltsam durchgesetzt. Verbunden war damit eine umfassende Flurbereinigung der politischen Landschaft in Deutschland, in deren Verlauf 1866 neben dem Kurfürstentum Hessen auch das Königreich Hannover von Preußen annektiert wurde. So wachten auch die Göttinger eines Morgens in einer preußischen Stadt auf, und weite Kreise vor allem des Bürgertums standen den neuen Herren zunächst durchaus ablehnend gegenüber. Bald allerdings passte man sich den neuen Verhältnissen an und ließ sich insbesondere in seiner Begeisterung für den ehemaligen Göttinger Studenten Otto von Bismarck, der von 1832 bis 1833 an der Georgia Augusta studiert hatte, so leicht von niemandem übertreffen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Göttingen nicht nur - wie viele Städte in Deutschland - einen Bismarckturm, sondern außerdem ein Bismarckhäuschen und einen Bismarckstein, im Volksmund respektlos "Elefantenklo" genannt, vorweisen. |
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(Auszug aus: Ernst Böhme: Göttingen: kleiner Führer durch die Stadtgeschichte) |