„Es verstößt gegen die guten Sitten, wenn im November 1944 jemand einen anderen bei der Gestapo wegen politischer abfälliger Äußerungen anzeigte, um ihn unschädlich zu machen".
Ende 1947 wurde in einem Prozess gegen zwei Göttinger vor dem Oberlandesgericht Celle die Denunziation einer Frau behandelt, die sich von Insterburg in Ostpreußen am 29. Oktober vor der anrückenden Roten Armee nach Göttingen flüchtete:
Die über 50 Jahre alte Klägerin ist von Beruf Gärtnerin und lebte in Insterburg in Ostpreußen. Als im Herbst 1944 infolge des Näherrückens der Ostfront und der wachsenden Gefahr eines Einbruchs der Russen die Räumung von Insterburg angeordnet wurde, flüchtete die Klägerin am 29. Oktober 1944 aus Ostpreußen. Sie wurde in Göttingen bei einer ihr bereits bekannten Familie aufgenommen.
Die Beklagte zu 2) stammt ebenfalls aus Ostpreußen ist aber mit dem Beklagten zu 1) seit langen Jahren in Göttingen ansässig.
Die Klägerin hatte die beiden Beklagten im Jahre 1938 flüchtig kennen gelernt. Sie kannte den Beklagten zu 1 ) als einen bedeutenden Blumenzüchter aus der Gartenbau-Zeitschrift „Die Gartenschönheit“, in der er die Ergebnisse seiner Forschungen und Blumenzüchtungen veröffentlichte. Am Sonntag, dem 5. November 1944, stattete die Klägerin den Beklagten vormittags einen Besuch ab. Das Gespräch kam bald auf die Flucht der Klägerin u. die Zustände in Ostpreußen. Die Klägerin schilderte Verhältnisse dort als sehr ungünstig und die Lage als sehr bedrohlich. Sie erwähnte auch, daß viele Menschen aus Angst vor den Russen Selbstmord begangen hätten. Die Beklagte zu 1) versuchte die Klägerin zu beschwichtigen und vertrat die Ansicht, die Lage sei nicht so ernst, wie die Klägerin sie ausmale. Hinsichtlich der von ihr erwähnten Selbstmorde sagte er (der Beklagte) nach der Darstellung der Klägerin: "Laß' sie reisen", nach seiner Behauptung, an den Selbstmorden sei eben nichts mehr zu ändern. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung kam das Gespräch auf die zur Verteidigung Ostpreußens von der Führung getroffenen Maßnahmen. In diesem Zusammenhange äußerte die Klägerin: An Adolf Hitler glaubt in Ostpreußen kein Mensch mehr. Bei dieser Äußerung waren beide Beklagte zugegen. Das Gespräch ging dann in der Erörterung politischer Ereignisse noch eine Weile weiter. Am Schluß des Besuches empfahl der Beklagte zu 1) der Klägerin, zur Orientierung über die politische Lage „Das Schwarze Korps“ zu lesen.
Einige Tage später zeigte der Beklagte zu 1) die Klägerin, wegen ihrer Äußerungen schriftlich bei der Geheimen Staatspolizei an. Die Beklagte zu 2) erfuhr von der Anzeige erst, als der Beklagte zu 1) sie bereits aufgesetzt1 hatte. Sie unterschrieb die Anzeige nicht, widersprach aber auch nicht ihrer Absendung. Nach einigen Tagen vernahm ein Gestapobeamter die beiden Beklagten in ihrer Wohnung. Später wurde die Beklagte zu 2) nochmals von der Gestapo verhört. Bei beiden Vernehmungen schilderte sie das beim Besuch der Klägerin mit dieser geführte Gespräch den Tatsachen entsprechend. Auf die Anzeige des Beklagten zu 1) wurde die Klägerin von der Gestapo festgenommen. Als sie bereits in Haft war, rief die Gestapo den Beklagten zu 1) fernmündlich an und fragte ihn, ob er die Angelegenheit für sehr ernst ansehe. Er antwortete, das müsse die Gestapo wissen. Die Anzeige nahm er nicht zurück.
Die Klägerin, gegen die inzwischen ein richterlicher Haftbefehl erlassen worden war, wurde in das Landgerichtsgefängnis in Göttingen eingeliefert. Dort erlebte sie am 24. und 25. November 1944 zwei Bombenangriffe, durch die die nächste Umgebung des Gefängnisses getroffen und auch das Gefängnis selbst beschädigt wurde. Aus Sicherheitsgründen wurde die Klägerin darauf mit anderen Gefangenen in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen und einige Tage später in das Landgerichtsgefängnis in Hildesheim überführt. Dort erfolgte am 26. April 1945 kurz vor dem Einrücken der Amerikaner ihre Entlassung.
Die Klägerin trägt vor, die Unterhaltung sei mehr zufällig auf das politische Gebiet gekommen, hauptsächlich infolge der ihr vom Beklagten zu 1) gemachten Vorhaltungen in dieser Richtung.
In der Anzeige, die der sie vernehmende Gestapobeamte ihr vorgelesen habe, habe der Beklagte zu 1) zum Ausdruck gebracht, daß er sich als guter Nationalsozialist zur Anzeige verpflichtet gehalten habe. Der Gestapobeamte habe ihr erklärt, er werde erst einmal bei dem Beklagten zu 1) Rückfrage halten und dann entscheiden, ob sie weiter in Haft behalten werden müsse. Sie sei nicht freigelassen worden; bei ihrer zweiten Vernehmung habe der Beamte ihr vielmehr eröffnet, die Beklagten seien bereit, ihre Aussagen zu beschwören. Während der Haft habe die Zeugin M. Anfang Dezember 1944 versucht, den Beklagten zu 1) zur Zurückziehung seiner Strafanzeige zu veranlassen. Dieser habe sich jedoch geweigert und dabei geäußert: „Wer vom antifaschistischen Bazillus befallen ist, muß daran zugrundegehen". Die Klägerin behauptet, durch die lange Haft und die damit verbundenen Aufregungen habe sie schwere gesundheitliche Schädigungen erlitten. Früher sei sie stets gesund gewesen, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis habe sie sich jedoch kaum fortbewegen können. Ihre Füße seien geschwollen gewesen, und sie habe sich in einem völlig erschöpften Zustande befunden. Sie habe daher mehrfach ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen und sei auch zur Zeit noch in ärztlicher Behandlung wegen Herzschwäche, Gelenkrheumatismus und Nervenentzündung. Ihre Krankheitsausgaben hätten fast 400 RM betragen. Sie sei nicht mehr in der Lage, eine gärtnerische oder sonstige schwere körperliche Arbeit zu verrichten.“2
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Literatur
OLG Celle (1948): Es verstößt gegen die guten Sitten, wenn im November 1944 jemand einen anderen bei der Gestapo wegen politischer abfälliger Äußerungen anzeigte, "um ihn unschädlich zu machen". Die Verpflichtung zum Ersatz eines durch eine anschließende Untersuchungshaft entstandenen Schadens wird durch einen ergangenen richterlichen Haftbefehl nicht ausgeschlossen (§ 826 BGB). In: Niedersächsische Rechtspflege 2 (1), S. 46–52.
1OLG Celle 1948, S. 46, Rechtskr. Urteil des OLG. Celle - /2 U. 207/47 v. 5.12.47.
2Ebenda.
Rainer Driever