Spielräume
Nach
der ersten Repressionswelle im Frühjahr 1933 setzte die
offizielle Politik gegenüber den Sozialdemokraten eher auf eine
Eingliederung: Sie galten als grundsätzlich integrierbar in das
Konzept der Volksgemeinschaft. Ihre politische Vergangenheit fiel
aber immer wieder ins Gewicht, z.B. wenn eine „politische
Beurteilung“ der Kreisleitung fällig wurde.1
Auch Treffen ehemaliger Genossen, zumal wenn sie alte Verbindungen
pflegten, wurden von den neuen Machthabern argwöhnisch
beobachtet. So schrieb die Kreispropagandaleitung an die Kripo in
Göttingen im Februar 1934: (…)
gegenüber
Knipping sollen sich in den Stunden zwischen 2 und 4 Uhr nachts
allerlei Bonzen zu feuchtfröhlichem Tun zusammenfinden. An
diesem Gelage sollen sich sogar Göttinger Polizisten beteiligen.
Die Wirtschaft ist nach vorn dunkel, während sich in dem
Hinterzimmer dieses Beisammensein früherer Führer der SPD
abspielt. Wir bitten auch in diesem Falle‚ um die Überwachung
und Mitteilung der Feststellung.2
Das verweist auf das wesentliche Merkmal der Reaktion der Göttinger Genossen auf die Repression: das Ausweichen der SPD-Mitglieder in private oder arbeitsweltliche Milieu. Ein „Untertauchen“ zwecks Widerstands war bei dem Überwachungsaufwand, der von Polizei und Parteigliederungen betrieben wurde, sowie unter den Bedingungen einer Kleinstadt kaum möglich. So setzte man auf ein „Überwintern“ in informellen Zirkeln.
Im Oktober 1935 meldete wiederum die Stapo-Stelle Hannover zur illegalen Tätigkeit der SPD: (...) Flugblätter konnten nicht erfaßt werden. Es wäre aber falsch zu meinen, daß die Arbeiter namentlich in den größeren Betrieben eine aufrichtige und ehrliche Meinung über die Aufbauarbeit des nationalsozialistischen Staates haben. Alles, was für die Arbeiterschaft getan wird, findet nicht die entsprechende Würdigung. Es muß vielfach mit einer ablehnenden Haltung gerechnet werden (…). Viele der früheren Sozialdemokratischen Partei angehörige Arbeiter haben sich wieder zusammengefunden in irgendwelchen äußerlich harmlos erscheinenden Vereinen, so insbesondere in „Konsumvereinen“' und dem „Bund der Kinderreichen“.3
Illegale
Schriften der SPD fanden höchstens einmal den Weg von außerhalb
in die Region. So tauchte kurz vor der Reichstagswahl am 12. November
1933 eine Ausgabe
des „Neuen Vorwärts“ auf. Abgegeben wurde davon ein
Exemplar bei der Nachrichtendienststelle der NSDAP von einem Landwirt
aus Unterbillingshausen. Der ND leitete den Vorgang an die Polizei
weiter. Die Ermittlungen folgten dem Verdacht des Landwirts, wohl
auch, weil sie gegen den jüdischen Mitbürger Raphael Hahn
gerichtet waren und man sich seitens der Partei beobachtet fühlte.4
(Ermittlungen gegen Hahn
PDF)
Raphael und Nathan Hahn richteten eine Beschwerde an die Ortspolizei
über die bei
ihnen vorgenommene Haussuchung und versuchten gegen den Schlachter
August Lechte wegen Beleidigung Strafanzeige zu stellen.5
Bis Ende
Januar 1934 wurde von der Göttinger Kriminalpolizei dazu
erfolglos ermittelt.
Göttinger Betriebe
Wo
blieben nun die Genossen? Der Schriftsetzer August Stapel, seit 1922
gewerkschaftlich organisiert, war kein SPD-Mitglied. Er stand eher
den Freidenkern und dem Internationalen
Sozialistischen Kampfbund
nahe. Stapel verlor seine Arbeit bereits 1931 und war 1933 als
Notstandsarbeiter beschäftigt. 1937 wurde er verhaftet, nach
seiner Haftentlassung arbeitete er u.a. beim Bau der Autobahn. Bei
anerkannten Rüstungsbetrieben durfte er nicht arbeiten (z.B.
Zeiss, Flugplatz). Schließlich wurde er mit dem Hinweis alter
Kollege vom Göttinger Tageblatt
im Betrieb der Göttinger Aluminiumwerke (ALCAN) eingestellt. Das
Werk war seit 1930 im Besitz der kanadischen Aluminium Company. Dort
war Franz Arnholdt (Arnholdt
PDF)
Obermeister‚
Ernst Fahlbusch (Fahlbusch
PDF)
war Meister beim Werkzeugbau. Mehrere SPD-Leute und auch KP-Männer
wie Fritz Vogt (siehe
unten)
waren hier schon früher untergetaucht.“(S. 9) „Von
1938 bis 1945 haben sich die Gruppen im Betrieb sortiert. Ich war in
der Automatendreherei mit Vogt, Jablonski und anderen SPD/KPD-Leuten.
Wir hatten auch einige Russen dabei. Herr Gemöhling
(gemeint ist wohl Ernst
Möhring,
KPD) sprach
perfekt russisch und hatte gehört, wie die Russen uns schon in
Gruppen sortiert hatten.6
Der Drechsler und Maschineneinrichter Friedrich Vogt aus Bishausen, seit 1928 Mitglied der KPD, wurde am 5.12.1933 wegen Verbreitung verbotener Druckschriften zu einer einmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt und nach Verbüßung in Schutzhaft übernommen. Als politisch Vorbestrafter hatte er kaum eine Chance, in Göttingen eine Arbeit zu finden, denn die Bewerbungen war mit einem Fragebogen gekoppelt, in dem genau dies abgefragt wurde. Im Aluminium-Werk gab es diesen nicht. Vogt erinnert sich: Unter dem Direktor Martin Schmidt wurde (...) alles eingestellt: Gewerkschaftler, Sozialdemokraten, Kommunisten. Die Hauptsache war, es waren anständige Kerle. (…) Politik wurde trotzdem gemacht – wenn er nicht dabei war. Das Alu-Werk war der einzige Betrieb, der alle Leute aufgenommen hat, z. B. Fahlbusch, den späteren Landrat, Arnholdt vom "Volksblatt", Ernst Möhring von der KPD, August Stapel, der beim ISK war. Das Alu-Werk war dadurch das Zentrum aller politischen Linksparteien.7 So fand z.B. auch Hulda Eglinsky, die Schwester von Friedrich Vogt und Frau des „berüchtigten“ Göttinger Kommunisten Willi Eglinsky (Eglinsky), dort Arbeit.8
Um
Felix Kraft, der 1939 nach Göttingen kam, bildete sich bei
Feinprüf (Mahr) eine kleine „antifaschistische Zelle“,
die 1945 der Kern der wiedergegründeten SPD bildete. Ihre Arbeit
sah sie nicht so sehr im Widerstand, als in der der Vorbereitung der
Wiedergründung der SPD nach Kriegsende.9
1944 wurden einige Göttinger von ihrer politischen Vergangenheit eingeholt. Am 22. August des Jahres wurden reichsweit ehemalige Kommunisten, Gewerkschafter und SPD-Mitglieder festgenommen. Die Ortspolizei verhaftete in einer gemeinsamen Aktion mit der Stapo-Außendienststelle Göttingen: den Kommunisten Karl Meyer sowie die Sozialdemokraten Ernst Fahlbusch10, Heinrich Ische, Karl Grüneklee, Wilhelm Beuermann und Hans Brüller. Für Brüller ist bekannt, dass er für 10 Tage in Bad Wildungen inhaftiert war.11
Die Aktion Gitter war keine Folge des missglückten Attentats auf Hitler und stand mit den Ermittlungen gegen die Verschwörer des 20. Juli nicht in Zusammenhang. Bereits 1935/36 wurden führende Politiker der Weimarer Republik auf einer dreiteiligen Liste erfasst. Nach Kriegsausbruch verhaftete die Gestapo die als Staatsfeinde Gelisteten. Nach dem Attentat auf Hitler kam diese Liste wiederum zum Einsatz. Verhaftet wurden reichsweit ungefähr 5000 Personen, KPD-, SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre.
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Literatur und Quellen:
Anfragen und Beobachtungen über Personen in politischer Hinsicht: Personenbeobachtung. Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 31a, Nr. 14.
Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt (13.01.1977). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I, Nr. 98.
Entschädigungsakte Eglinsky, Willi: VVN - Eglinsky. Archiv des VVN-BdA Niedersachsen e.V., Fach 12, Nr. 96.
Interview August Stapel (21.01.1977). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I Nr. 90 (Popplow-Box).
Karteikarten Popplow-Box. Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 II, Nr. 110.
Mlynek, Klaus (1986): Gestapo Hannover meldet--. Polizei- und Regierungsberichte für das mittlere und südliche Niedersachsen zwischen 1933 und 1937. Hildesheim: A. Lax (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXIX, Niedersachsen 1933-1945, Bd. 1).
Rohrbach, Rainer (1985): "… damit radikale Elemente zurückgedrängt werden.". Gewerkschaften und Parteien in den Jahren 1945 und 1946. In: Hans-Georg Schmeling (Hg.): Göttingen 1945: Kriegsende und Neubeginn: Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum, 31. März - 28. Juli 1985. Göttingen: Kulturdezernat, S. 317–349.
Thieler, Kerstin (2014): Volksgemeinschaft unter Vorbehalt: Gesinnungskontrolle und politische Mobilisierung in der Herrschaftspraxis der NSDAP-Kreisleitung Göttingen. 1. Aufl. Göttingen, Niedersachs: Wallstein (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen / Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen).
Verordnung über Verhängung des Ausnahmezustandes und Schutz der Republik: Schutzhaft. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir., Fach 31a, Nr. 2, Bd. 1.
1Dazu: Thieler 2014.
2Anfragen und Beobachtungen über Personen in politischer Hinsicht, S. 65v, 5.2.1934: Gauleitung; Kreispropagandaleitung an Kripo Göttingen.
3Mlynek 1986, S. 442, 57 / Lagebericht der Staatspolizeistelle Hannover an das Geheime Staatspolizeiamt Berlin für den Monat Oktober 1935 / 4. November 1935, BA: R 58/552 (Kopie aus dem ZPAB). Abschrift. Bezug: wie 18.
4Verordnung über Verhängung des Ausnahmezustandes und Schutz der Republik, S. 301 ff.
5Ebenda, S. 308-308v, 11.11.1933, Beschwerde Raphael Hahns über eine Haussuchung an die Polizeidirektion.
6Interview August Stapel 21.01.1977, S. 1.
7Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt 13.01.1977, S. 2.
8Entschädigungsakte Eglinsky, S. 8, 16.2.1966 Erklärung Heide Friedrich zu Eglinsky.
9Rohrbach 1985, S. 331 (nach Breuker, S. 47 f.).
10Karteikarten Popplow-Box, S. 8.
11Ebenda, S. 7.
Rainer Driever