Emil Sittig – KPD-Ortsgruppe Speele
Am
1. April wurde in Münden ein Kommunist beim Verteilen von
Flugblättern festgenommen.1
Dabei
handelte es sich sehr wahrscheinlich um Emil Sittig aus Speele.
Sittig wurde in Schutzhaft genommen und in das Göttinger
Gerichtsgefängnis überführt. Gegen ihn wurde ein
Ermittlungsverfahren wegen Vergehen gegen die Verordnung vom 28.2.33
eingeleitet.2
Am 16. Mai wandte sich Sittig in einem zweiseitigen Brief an den Oberstaatsanwalt und bat diesen um Haftentlassung. Inzwischen war er in einer Verhandlung vor dem Schöffengericht Göttingen am 21.4.1933 zu einer geringfügigen Geldstrafe wegen Hausfriedensbruch verurteilt worden, das Ermittlungsverfahren wegen Verbreitung illegaler Schriften wurde eingestellt. Dagegen hatte der Göttinger Oberstaatsanwalt Berufung einlegte. Diese hatte Erfolg und so wurde seine Schutzhaft von einer viertägigen Ersatzstrafe unterbrochen.3 Sittig hoffte auf eine Entlassung nach Absitzen dieser Strafe.
Der Oberstaatsanwalt machte keine Bedenken gegen die Entlassung Sittigs aus der Schutzhaft geltend, trotzdem wurde dieser am 7. Juni 1933 in das Konzentrationslager Moringen überwiesen. Die Haftbedingungen waren schlecht und es herrschte große Enge. Sittig war in einer 6- bzw. 9-Mann-Zelle untergebracht. Die ungesunde Luft verschlimmerte sein Lungenleiden.4
Am 13. Juli wurde Paul Konegen, ebenfalls ein Kommunist aus Speele, im Göttinger Gerichtsgefängnis als Schutzhäftling eingeliefert.5 In seiner Anzeige an den Landrat charakterisierte Oberlandjäger Winter vom Gendarmerieposten Lutterberg ihn als treuen Mitarbeiter des in Schutzhaft befindlichen Paul Sittig aus Speele, der noch heute im Geheimen für die KPD arbeite. Grund der Anzeige war ein Vorfall in einem Lokal. Dort hätten Mitglieder des Gesangvereins Münden das Horst-Wessel-Lied in vollster Ehrung gesungen u. dabei sich von den Plätzen erhoben. Dagegen ist Konegen sitzen geblieben. Das Benehmen desselben zeigt deutlich, daß K. seiner alten Partei die Treue hält und der heutigen Regierung größte Mißachtung entgegen bringt.6
Gegen Konegen wurde zusammen mit Paul Sittig am 17.7.1933 vor der Großen Strafkammer in Göttingen verhandelt. Das Urteil erbrachte 10 Tage Gefängnis, die seine Schutzhaft – allerdings nur im rechtlichen Status – unterbrachen.7 Über die Dauer von Konegens Schutzhaft und den Ausgang des Verfahrens für Sittig ist leider nichts bekannt.
Inzwischen wurde noch ein anderer Speeler Kommunist, Heinrich Hämmerich, in Schutzhaft genommen. Hämmerich wurde am 22. Juli in das Gerichtsgefängnis Göttingen eingeliefert.8 Die Dauer seiner Haft ist unklar, er erscheint aber noch Ende Oktober auf einer Liste mit Schutzhäftlingen im Gerichtsgefängnis Göttingen.9
Paul Sittig saß zu dieser Zeit noch in Schutzhaft im Konzentrationslager Moringen. Besorgte Speeler Bürger hatten sich inzwischen an die Direktion des Konzentrationslagers Moringen sowie die Landjägerei in Lutterberg gewandt. Ein Lehrer gab seiner Befürchtung über Sittigs baldige Entlassung Ausdruck und bat in seinem Schreiben um strengste Diskretion. Die Entlassung Sittigs würde erneut größte Beunruhigung in unsere Gemeinde tragen. Wie seine Frau z.B. geäußert hat, will er sich dann jeden "Nazi" vornehmen. Auch spricht die Frau auf Grund ihrer häufigen Besuche bei ihrem Manne sehr abfällig über die Behandlung und Ernährung der Gefangenen. (...)10 Der ehemalige Vorsitzende der SPD-Ortgruppe Speele schrieb an den Landjäger, dass Sittig in Speele die „Rote Latüchte“ verkaufte, in welcher ich in Wort und Bild in der niederträchtigsten Weise angegriffen wurde.“ Der ehemalige SPD-Funktionär vermutete Emil Sittig hinter diesen Angriffen. Ob dies eine verspätete Rache an dem ohnehin einsitzenden Sittig darstellte und der ehemalige SPD-Vorsitzende damit die Ermittlungen gegen seinen alten Widersacher beflügeln wollte, bleibt unklar.11 Jedenfalls hatte ihm Sittig im Juni 1932 angeboten, mit der SPD-Ortsgruppe Speele gegen die Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten und war damit auf wenig Gegenliebe gestoßen.12
In
Speele wurde von Sittig und anderen KPD-Mitgliedern tatsächlich
die Rote
Latüchte,
die Mündener KPD-Zeitung, verbreitet. Im Januar 1933 versuchten
die Speeler Aktivisten sich zudem an einer eigenen Zeitung, dem Roten
Fuldatal-Sender,
der anscheinend nur eine Ausgabe erlebte.13
Anfang November wurde Paul Sittig aus der Schutzhaft in Moringen entlassen.14 Seine Inhaftierung ist ein Beispiel für die flexible Handhabung der Schutzhaft. Diese wurde unterbrochen von zwei Gerichtsverfahren. Im ersten Verfahren im April verurteilte man ihn zumindest wegen Hausfriedensbruch, da ein Urteil aufgrund der Verordnung vom 28.2.33 nicht möglich war. Da er nach dem zweiten Verfahren weiter als Schutzhäftling geführt wurde, war auch dieses nicht erfolgreich im Sinne der Staatsanwaltschaft. Trotzdem verbrachte Sittig eine siebenmonatige Haft im Gerichtsgefängnis Göttingen und im Konzentrationslager Moringen.
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Literatur und Quellen:
Hruska, Margid; Kropp, Dieter; Quest, Thorsten (1993): Münden in der NS-Diktatur: Exemplarische Analysen und didaktisch aufbereitete Dokumente zum Thema: Fabrikleben und Alltag im Nationalsozialismus. 2. Aufl. Göttingen: Verl. Die Werkstatt.
Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I. Kreisarchiv Göttingen, LA HMÜ 94.
Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II. Kreisarchiv Göttingen, LA HMÜ 85.
1Hruska et al. 1993, S. 222, 1.4.1933 - M.N. - Verhaftung eines flugblätterverteilenden Kommunisten.
2Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 123, 5.4.1933. Oberstaatsanwalt an Landrat - Sache Sittig.
3Ebenda, S. 125, 18.5.1933 - Oberstaatsanwalt an Landrat – Sittig.
4Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 127, 9.6.1933 - Emil Sittig an Landrat- Entlassung Sittig und Überführung nach Moringen.
5Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 213, 13.7.1933 - Einlieferungsformular Konegen Gerichtsgefängnis Göttingen.
6Ebenda, S. 210, 5.7.1933 - Oberlandjäger Winter Lutterberg an Landrat -.
7Ebenda, S. 216, 4.9.1933 - Amtsgericht Münden an Landrat - Paul Konegen.
8Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 94, 22.7.1933 - Landjägerei Lutterberg an Landrat.
9Ebenda, S. 62, 31.10.1933 - Landrat - Liste mit Schutzhäftlingen Kreis Münden.
10Ebenda, S. 129, 17.7.1933 - Lehrer Poltz aus Speele an Direktion KZ Moringen – Sittig.
11Ebenda, S. 92, 8.7.1933 - Brief des Heinrich Klie, Vorsitzender der SPD-Ortgruppe Speele an Landjägerei Lutterberg.
12Ebenda, S. 87-87v, 23.6.1932 - Emil Sittig an Vorsitz. SPD-Ortsgruppe Speele.
13Ebenda, S. 89, Januar 1933 - KPD-Organ "Der Rote Fuldatal-Sender - Speeler Dorfzeitung".
14Ebenda, S. 132, 7.11.1933 - Verpflichtungserklärung Emil Sittig.
Rainer Driever