Richard Scharf

Der Tischlermeister Richard Scharf schrieb an seinen Bruder Bernhard, der bereits seit dem 8. März 1933 im Gerichtsgefängnis Göttingen einsaß, einen Brief:

Lieber Bernhard,
langer Brief bei heutigen Zensurverhältnissen zwecklos. Ich bin jetzt in einem Stadium, wo ich mich über nichts mehr wundere. Sei froh, daß Du so etwas nicht mit anzusehen brauchst. Es zeigt sich recht deutlich, was für charakterlose Lumpen viele Leute sind, die man immer für Marxisten gehalten hat.
(...) Gestern erzählte mir unser Hermann, daß der neue russische Großsender bereits funkt. 9 andere sollen an der polnischen Grenze im Bau sein. Ich werde mal nach Ad.E. (Adolf Engel, RD) gehen und mich davon überzeugen. Die letzten Vorträge des Moskauer Senders waren immer unverständlich. (...) heute waren 2 Gen(ossen) hier. Die haben für die pol(itischen) Gefangenen gesammelt. Ich habe auch eine Mark geschmissen. Davon soll euch allen ein Sammelpaket geschickt werden.

(...) Karl Schneemann hat geschrieben, daß ihr alle fleißig die Bibel lest. Lest auch Matthaei 5.10. (Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel. RD) und Petri 2.20. (1. Brief Petri, 2, 20: Denn was ist das für ein Ruhm, wenn ihr geduldig Schläge ertragt, weil ihr gesündigt habt? Wenn ihr aber für Gutestun leidet und es geduldig ertragt, das ist Gnade bei Gott. RD)

Viele Grüße an alle Gen. und ein kräftiges Rot Front.
Richard
1

Der Inhalt des Briefes wurde nach der Briefkontrolle im Göttinger Gerichtsgefängnis der Staatsanwaltschaft übermittelt. Scharf wurde am darauf folgenden Tag in Schutzhaft genommen und in das Gerichtsgefängnis Göttingen überführt.2

Am 28. April schrieb Scharf eine Eingabe an den Regierungspräsidenten und bat um Aufhebung seiner Schutzhaft.3 11 Tage später wurde er noch unter den Schutzhäftlingen gelistet, für die bislang keine Unterbringung in einem Konzentrationslager vorgesehen war.4 Am 16. Mai willigte der Regierungspräsident grundsätzlich in Scharfs Entlassung ein, machte diese aber abhängig von weiteren Ermittlungen über den russischen Geheimsender.5 Am 30. Mai 1933 erfolgte seine Entlassung aus der Schutzhaft.

Erneute Verhaftung Richard Scharfs

Am 8. Juli führten die Mündener Kommunisten eine Flugblattaktion durch. Richard Scharf gehörte zu den sieben am 10.7.1933 Verhafteten. Im Bericht der Ortspolizei heißt es:

Am Sonnabend, den 8.7. d.J.rs. gegen 22 Uhr wurden kommunistische Flugblätter in verschiedenen Häusern unter die Tür geschoben oder in den Hausflur geworfen. Der Inhalt stellt eine Verächtlichmachung der Regierung dar und hetzt gegen diese in der unerhörtesten Weise. Festgestellt ist, dass um die angegebene Zeit Frau Neubauer, der Tischler Scharf und der Arbeiter Böhle durch die hinteren Strassen eilten. Die Zahl der verteilten Flugblätter steht nicht fest, 12 Stück sind hier aber abgegeben und 4 Stück an das hiesige Postamt zur Bestellung als Drucksache aufgegeben worden, sodaß mit einer beträchtlichen Zahl der zur Verteilung gelangten Flugblätter zu rechnen ist.

Um eine Wiederbelebung der kommunistischen Aktivität in der Öffentlichkeit vorzubeugen, sind erneute, umfangreiche Durchsuchungen bei der K.P.D. und die (!)zum Schluß aufgeführten Funktionäre (!) derselben vorgenommen worden. Es ist nun an der Zeit, mit den schärfsten Repressalien gegen die kommunistischen Funktionäre vorzugehen.

Ein Flugblatt ist beigefügt.

Namen:
Frau Dora Neubauer, hier, Weidenstieg
Arbeiter Ludwig Risch, hier, Lohstr. 3
Tischlermeister Richard Scharf, hier, Lohstr. 1
Arbeiter Hans Böhle, hier, Lohstr. 4
Arbeiter Hermann Pszolla, hier, Adolf-Hitler-Str. 20
Arbeiter Gustav Risch, hier, Schmiedestr. 5
Zimmermann Heinrich Bauersachs, hier, Kiesau.6

Richard Scharf wurde wiederum im Göttinger Gerichtsgefängnis inhaftiert. Gegen Dora Neubauer, Richard Scharf und Hans Böhle wurde ein Strafverfahren gemäß § 20 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 4.2.1933 eingeleitet. Das Gerichtsgefängnis wurde angewiesen, die Inhaftierten getrennt zu haltenden.7

In einem Vermerk der Ortspolizei an den Landrat hieß es zwei Wochen nach der erneuten Inhaftierung, am 26.7.1933: Der Tischlermeister Richard Scharf ist seit langem dafür bekannt, daß er gegen rechtsstehende Organisationen scharf eingestellt ist und gegen diese hetzt. Er erweckte den Anschein, als wollte er sich gegen die über seinen Bruder Bernhard verhängte Schutzhaft rächen. Obwohl Richard Scharf sich bereits vom 26. April 1933 bis 30. Mai 1933 in Schutzhaft befand, hat er keine Lehre daraus gezogen. Er verkehrte nach wie vor mit den hier als Kommunisten am meisten verschrienen Personen.8



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Quelle:

Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II. Kreisarchiv Göttingen, LA HMÜ 85.



1Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 188, 23.5.1933 - Abschrift Staatsanwaltschaft Göttingen Wucherpfennig.

2Ebenda, S. 57, 26.4.1933 - Einlieferungsformular Richard Scharf Gerichtsgefängnis Göttingen.

3Ebenda, S. 58-59, 28.4.1933 - Eingabe Richard Scharf an Reg.Präs. Hildesheim – Freilassung.

4Ebenda, S. 191, 8.5.1933 - Ortspolizei Münden an Landrat - Schutzhaft Jörres, Scharf, Wucherpfennig und Czeczor.

5Ebenda, S. 61, 16.5.1933 - Reg.Präs. Hildesheim an Landrat - Eingabe Scharf.

6Ebenda, S. 16, 10.7.1933 - Ortspolizei Bericht Schutzhaft KPD-Funktionäre.

7Ebenda, S. 21, 10.7.1933 - Ortspolizei Münden an Landrat - Einleitung Strafverfahren Neubauer, Scharf, Böhle.

8Ebenda, S. 62. 26.7.1933, Ortspolizei Münden an Landrat, Ablehnung Entlassung Scharf.

Rainer Driever