Willi Schmalstieg

Willi Schmalstieg wurde am 23. Februar 1897 als viertes von sieben Kindern in Grone geboren. Er wurde zeitgemäß religiös erzogen. In den letzten Jahren seines Schulbesuches übernahm das, anstatt seiner Eltern, der zuständige Pastor. Schmalstieg betont ausdrücklich, dass seine Erziehung, wiederum der Zeit gemäß, an den Gesetzen des Staates und Gottes ausgerichtet war.

Ab seinem 11. Lebensjahr musste er mitverdienen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich am 2. Mobilmachungstag in Braunschweig bei den Husaren als Kriegsfreiwilliger. Kurz darauf stellte man fest, dass die „Mode“-Waffengattung Kavallerie hoffnungslos überlaufen war, woraufhin sich Schmalstieg in Göttingen bei der Infanterie meldete. Nach 6-wöchiger Ausbildung wechselte Schmalstieg am 1. Oktober 1914 in das 6. Thüringische lnfanterie-Regiment 95 nach Polen. Am 12. August 1915 wurde er bei Bialystok durch eine Schrapnellkugel an der Bauchdecke verwundet; aus dem Lazarett wurde er als nicht infanterietauglich entlassen. Bis zum Kriegsende diente er in verschiedenen Truppenteilen und nahm an der Somme-Schlacht 1916 und der Flandernschlacht in der zweiten Jahreshälfte 1917 teil. Durch den Krieg litten sein Glauben und sein Interesse an Religion. Nach seiner Entlassung schloss sich Schmalstieg den Sozialdemokraten an, ihre Parole „Nie wieder Krieg" faszinierte ihn. Arbeit fand Schmalstieg im Dezember 1918 bei der Reichsbahn.

Nach einigen Jahren verlor er das Vertrauen in den Pazifismus der SPD und trennte sich 1923 wieder von der Partei. Fortan war er im Mandolinenclub, dem Turnverein und dem Gesangverein in Grone aktiv. Auf seiner Arbeitsstelle im Reichsbahn-Ausbesserungswerk kam er in Kontakt mit religiösen Kreisen.1 1923 trat Schmalstieg aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche aus und besuchte fortan die Kongresse der IBV, die jährlich in Deutschland stattfanden. 1927 lernte er auf der Rückfahrt vom Kongress den Bibelforscher Gobrecht aus Speele bei Hann. Münden kennen. Danach besuchten Schmalstieg und andere Göttinger monatlich die Versammlungen in Speele. Dort lernten sie auch einige Hann. Mündener Bibelforscher kennen und besuchten ab 1928 deren Versammlungen.2

Schmalstieg ließ sich 1929 auf dem Pfingstkongress taufen. Im Anschluss daran fanden die ersten Versammlungen der Bibelforscher in Grone statt, mittwochabends eine Gebetsversammlung und Sonntag abends eine Zusammenkunft zum Studium des Wachtturms. Teilnehmer waren seine Frau, Frau Brieskorn, seine Vermieter und ein Arbeitskollege mit seiner Frau, etwas später auch Ludwig Bornemann.3

Auf dem Kongress in Columbus, Ohio, der vom 24. bis 30. Juli 1931 stattfand, wurde eine Resolution angenommen, wonach die Bibelforscher den Namen „Jehovas Zeugen" annahmen, die Groner Versammlung stimmte dem ausdrücklich schriftlich gegenüber der Wachtturm, Bibel und Traktat Gesellschaft in Magdeburg zu.

Nach dem Verbot der Zeugen Jehovas am 24. Juni 1933 wurde die Wohnung von Schmalstieg durchsucht und vorgefundene Literatur beschlagnahmt. Die Polizei fand allerdings nur einen Rest, der größte Teil der Schriften lagerte in einem Versteck. Etwas später wurden auch seine gesammelten Ausgaben des Goldenen Zeitalters und des Wachtturms beschlagnahmt.

Die Groner Bibelforscher beteiligten sich an einer reichsweiten und internationalen Aktion der IBV, die Wachtturm, Bibel und Traktat Gesellschaft wieder zu legalisieren. Verhandlungen der Verlagsleitung mit der Reichskanzlei wurden im Februar 1934 von der IBV-Leitung für gescheitert erklärt. Hitler wurde eine Frist für die Legalisierung des Verlags gesetzt, nach deren Ablauf man die Menschenrechtsverletzungen international publik machen wollte. Zum Ablauf des Termins am 7. Oktober 1934 versammelten sich auch die Groner Zeugen Jehovas und sandten ein Protestschreiben nach Berlin. Das Schreiben, das die Unterschrift „Jehovas Zeugen; Gruppe Grone bei Göttingen“ trug, blieb für die Groner Versammlung folgenlos.

Auch Schmalstiegs Arbeitsstelle im Reichsbahn-Ausbesserungswerk wurde im Sinne der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft umgebaut. Quasi-militärische Appelle und Märsche konnten von Schmalstieg eine Zeitlang ignoriert werden. Aber der neue Betriebsrat, ein ehemaliges Mitglied von Schmalstiegs Kolonne und SA-Mann, beobachtete ihn. Dagegen bot ihm sein Meister einen gewissen kollegialen Schutz.

Wahlen und Volksentscheide versuchte Schmalstieg zu meiden, die Diskussionen mit ihm bei der Arbeit blieben aber nicht aus.4 Bis zur Wahl im April 1936 war Schmalstieg auf seinem Posten einigermaßen sicher. Eine Verdrängung als Kolonnenführer durch den SA-Mann Rindermann5 scheiterte. Auch die Einführung des Hitlergrußes bei der Arbeit überstand Schmalstieg, auch dank der großzügigen Auslegung der Grußpflicht durch den Werksdirektor, mittels einer Verkürzung des Grußes auf „Heil“.

Seine konsequente Verweigerung des Hitlergrußes und die erneute Nichtteilnahme, diesmal an der Reichstagswahl am 29.3.1936, führten zur Beurlaubung und der anschließenden Entlassung Schmalstiegs, sein Entlassungsschreiben datiert auf den 29. April 1936: „Da Sie durch Ihr Verhalten - Nichtbeteiligung an der letzten Wahl (29.3.1936) und Verweigerung des „Deutschen Grußes“ - den Arbeitsfrieden stören und ferner damit zum Ausdruck bringen, daß Sie nicht mehr die Gewähr dafür bieten, daß Sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, kündigen wir Ihnen im Auftrag der Reichsbahn-Direktion Kassel das Arbeitsverhältnis fristlos. (...)“

Schmalstieg arbeitete nach seiner Entlassung als Staubsaugervertreter bei der Firma Vorwerk & Co. In seiner Kolonne fanden sich u.a. einige Sozialdemokraten, die ebenfalls ihre Arbeit verloren hatten. Schmalstiegs Glaubensbruder Gerhard Oltmanns arbeitete in derselben Kolonne.6

Die Groner Zeugen Jehovas beteiligten sich an der reichsweiten Flugblattaktion der IBV Ende 1936. Wilhelm Schmalstieg und Wilhelm König aus Groß Lengden (Wilhelm König) verbreiteten die in der Schweiz gedruckten Flugblätter auf dem Postweg.

Nach eher erfolglosen Ermittlungen der Polizei und damit verbundener Untersuchungshaft versuchte Schmalstieg sich auf dem Arbeitsamt arbeitslos zu melden. Diese Meldung brauchte er für seine Reisepapiere, die er zuvor nach der Entlassung bei der Eisenbahn dort dreimal vergeblich beantragt hatte. Die Gestapo hatte diese jedes Mal abgelehnt. Schließlich erhielt Schmalstieg eine Wohlfahrtsunterstützung in Grone.

Die Offiziellen in Grone, der Bürgermeister und der Gendarmeriemeister, ließen Schmalstieg und seine Familie weitgehend in Frieden. Dies galt anscheinend auch für den Ortsgruppenleiter der NSDAP. Schwierigkeiten bekam die Familie Schmalstieg mit ihrem Vermieter bzw. dessen Frau, die ein Auge auf die anscheinend bessere und größere Wohnung geworfen hatte. Sie beantragte vor Gericht die Räumung , worin es zum Schluss heißt "(…) überdies ist es uns nicht zuzumuten, mit einem Bibelforscher unter einem Dach zu wohnen, der auf der Eisenbahn wegen Verweigerung des deutschen Grußes und Nichtbeteiligung an der Wahl entlassen ist."7

Die Schmalstiegs zogen aus, der Vermieter musste aber die Umzugskosten tragen. Sie fanden ein Haus in Grone, der Vermieter war ein ansässiger Bauer. Das Haus lag zurückgesetzt, sodass es nicht auffiel, wenn Schmalstieg der Pflicht zur Fahnenanbringung nicht nachkam. Zum Haus gehörte ein großer Garten, auf den Wegrändern in der Nähe pachtete Schmalstieg das Gras, sodass er drei Ziegen halten konnte. Die Fütterung von zwei Schweinen im Jahr und die Zucht von Kaninchen und Hühnern brachten die Familie durch die Hungerjahre vor und nach Kriegsende.

Arbeit fand Schmalstieg zunächst im Tiefbau, etwas später wechselte er zur Maschinenschlosserei Tessmann. Dort fiel seine Verweigerung des Hitlergrußes nicht weiter auf, sein Arbeitgeber richtete es so ein, dass Schmalstieg nicht in die “Grußsituation” kam. Die Gestapo zog weiterhin Erkundigungen bei seinem Arbeitgeber ein, die aber anscheinend positiv ausfielen. Schmalstieg arbeitete dort bis zum Kriegsende.

Schmalstieg bezog während der ganzen Verbotszeit - mit mehreren Unterbrechungen - den Wachtturm. Die wenigen Exemplare mussten oft an die Nachbarversammlung weitergegeben werden.8 1944 geriet Schmalstieg während einer solchen Kurierfahrt mit der Bahn nach Hann. Münden in eine Polizeikontrolle. Er hatte keinerlei Ausweispapiere bei sich, aber ein alter Nationalsozialist aus Grone, der zufällig in demselben Abteil saß, bestätigte seine Identität. Üblicherweise erhielt ein Mitglied der Zeugen Jehovas mehrere Exemplare des Wachtturms und belieferte damit auch die Nachbarversammlungen. Schmalstieg belieferte einige Zeit die Nachbarversammlung in Northeim, von wo wiederum die Harzer Versammlungen ihre Exemplare bezogen. Der Bäckermeister Wilhelm König aus Groß Lengden versorgte mit seinem Wagen eine Zeitlang einige Versammlungen und wurde auf einer Fahrt verhaftet und im anschließenden Prozess verurteilt (Wilhelm König). In den letzten Kriegsjahren bekam die Groner Versammlung den Wachtturm von dem Zeugen Jehova Meyer aus Speele.

Willi Schmalstiegs Lebenslauf unter dem Nationalsozialismus war zwar geprägt von Verfolgung seines abweichenden Verhaltens und der Entlassung aus seiner langjährigen Arbeitsstelle im Reichsbahn-Ausbesserungswerk, eine Haftstrafe erlitt er, abgesehen von einer kürzeren Untersuchungshaft, aber nicht. Insgesamt acht Hausdurchsuchungen durch Gestapo oder Polizei erbrachten kein belastendes Material. Seine Beteiligungen an den Flugblattaktionen der IBV und der Kuriertätigkeit gerieten zwar in den Blick der Polizei, blieben aber unbewiesen.

Nach Ende des Krieges entschied sich Schmalstieg für eine Rückkehr in das Reichsbahnausbesserungswerk Göttingen. Im September 1959 wurde er pensioniert. Nach 1945 war er in der Reorganisation der Zeugen Jehovas aktiv. Die "Jehovas Zeugen Gruppe Grone" mit 10 Mitgliedern wurde 1948 zur "Gruppe Göttingen", nachdem sich ihr einige Interessierte angeschlossen hatten. 9



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Quelle:

Lebenslauf Wilhelm Schmalstieg: Jehovas Zeugen in Göttingen. Jehovas Zeugen, Geschichtsarchiv, Selters/TS.



1Lebenslauf Wilhelm Schmalstieg, S. 1.

2Ebenda, S. 2.

3Ebenda, S. 3.

4Ebenda, S. 5.

5Ebenda, S. 6.

6Ebenda, S. 8.

7Ebenda, S. 9.

8Ebenda, S. 10.

9Ebenda, S. 11.

Rainer Driever