Reichsbanner
Am 28. März 1933 wurde der ehemalige Polizeihauptmann Lietz in Schutzhaft genommen. Er war technischer, d.h. militärischer Leiter des Reichsbanners in Hann. Münden.1 Ende Mai 1933 wurde ein anderes Mitglied der Führung des Reichsbanners, der Milchhändler Ernst Dörfler, ebenfalls inhaftiert.2 (Dörfler PDF)
Zur Verhaftung Dörflers, der Mitglied im ehemaligen Vorstand des Vereins Solidarität war, kam es aufgrund eines Zwischenfalls im Hann. Mündener Volksheim am Abend des 29. Mai. Das Volksheim stand bereits unter Aufsicht der NSBO, die kommissarische Aufsicht über den Verein Solidarität, den Träger des Volksheims, wurde Unterkommissar Gebhardt übertragen. Dieser bestimmte wiederum Mitglieder der SA, die den Ausschank in der angeschlossenen Gaststätte überwachten.
An
diesem Abend stand Fritz Michalski, ebenfalls SPD-Mitglied, hinter
der Theke. Kurz vor ein Uhr bestimmten die drei aufsichtführenden
SA-Leute den Feierabend. Ernst Dörfler erwiderte darauf, daß
er und die elf SPD-Mitglieder, die an der Theke standen, noch eine
halbe Stunde Zeit hätten. Die SA-Leute gingen darauf ein und
versuchten erneut um 1.30 Uhr die Schließung des Lokals zu
erreichen. Auf die erneute Ansage der SA-Leute hin beschimpfte
Dörfler die SA-Leute, die anderen SPD-Leute stimmten ein und die
drei SA-Männer fühlten sich augenscheinlich bedroht. Eine
Polizeistreife erschien, anscheinend wegen des entstandenen Lärms,
und entschärfte die Situation.
An diesem Beispiel zeigt sich
eine beliebte Strategie der neuen Machthaber. Da die verbal
Angegangenen in SA-Uniform waren, wurde die Beschimpfung nicht nur
persönlich, sondern gegen die ganze SA gerichtet aufgefasst.3
Am nächsten Tag wurde Dörfler, augenblicklich der gefährlichste Hetzer gegen die NSDAP, von der Ortspolizei Hann. Mündens in Schutzhaft genommen4 und in das Gerichtsgefängnis Göttingen überführt.5 Am 6. Juni bestand die Ortspolizei Hann. Mündens in ihrer Meldung an den Landrat auf der weiteren Inhaftierung von Ernst Dörfler. Wegen der Erregtheit der Leute der SA-Reserve über die angeblichen Beleidigungen könne man für die Sicherheit Dörflers nicht garantieren, die Haft diene also der Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr. Zudem wurde als Grund genannt, dass man Dörflers hinterhältige Hetze gegen nationale Umzüge und Versammlungen bislang leider nicht gerichtlich verwerten konnte. Er sei aber mit dafür verantwortlich, daß der rote Terror in Münden solange hemmungslos wütete.6
Einen Monat später wurde der Schlosser Paul Schulz (Schulz PDF) verhaftet. In der Urteilsbegründung vom 5.9. wurde wiederum eine Situation beschrieben, die von Alkohol und alten Ressentiments bestimmt war. Schulz saß am 1. Juli 1933 im Volkshaus (ehem. Volksheim) in Hann. Münden und hatte anscheinend schon einigen Alkohol konsumiert. Er trug die Uniform seines ehemaligen Verbandes, des inzwischen verbotenen Reichsbanners: grünes Hemd und Koppelschloss. Vor den Gästen erklärte er Hitlers Politik für „Blödsinn“ und nannte denselben einen Österreicher, einen Slowaken. Daraufhin nahmen zwei SS-Männer ihm das Koppelschloss ab und setzten ihn vor die Tür. Nach ähnlichen Äußerungen in einer anderen Gastwirtschaft wurde er von den ihm nachgegangenen SS-Männern in die Polizeiwache gebracht. Nach zweimonatiger Untersuchungshaft wurde Schulz wegen „Heimtücke“7 zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. (Heimtücke PDF) Ein paar Jahre später wäre die Äußerung über die Abstammung des Reichskanzlers von Slowaken härter bestraft worden.8
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Literatur und Quellen
Gefangenenpersonalakte Paul Schulz, Strafgefängnis Hameln; Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 86 Hameln Acc. 143/90 Nr. 1362.
Hruska, Margid; Kropp, Dieter; Quest, Thorsten (1993): Münden in der NS-Diktatur: Exemplarische Analysen und didaktisch aufbereitete Dokumente zum Thema: Fabrikleben und Alltag im Nationalsozialismus. 2. Aufl. Göttingen: Verl. Die Werkstatt.
Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I; Kreisarchiv Göttingen, LA HMÜ 94.
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1Hruska et al. 1993, S. 222.
2Ebenda, S. 222.
3Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 115, 30.5.1933 – Vernehmung SA-Männer zu Vorfall im Volkshaus.
4Hruska et al. 1993, S. 222.
5Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 116, 30.5.1933 - Einlieferung Dörfler Gerichtsgefängnis Göttingen.
6Ebenda, S. 117, 6.6.1933 – Ortspolizei Münden an Landrat.
7Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21.3.1933, § 3: „(...) unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbänden schwer zu schädigen (…).“
8Gefangenenpersonalakte Paul Schulz, S. 8, 5.9.1933 Urteil Gründe.
Rainer Driever