Vorbeugehaft

Die Arbeit der Kriminalpolizei wurde vom Aufgabenbereich der neugegründeten Geheimen Staatspolizei abgegrenzt. Die Polizei war für die Bekämpfung der Verbrechen zuständig, die nicht aus politischen Gründen begangen wurden. Dabei wurden zwei Kategorien unterschieden: a) Verbrechen, die aus subjektiven Gründen erfolgen und sich durch Abschreckung und Vorbeugungshaft potentiell verhindern lassen, sowie b) solche Verbrechen, bei denen sich der Täter nicht abschrecken lässt und aus Überzeugung oder aus „entarteten Trieben“ handelt (basierend auf „verbrecherischem Erbgut“). Dieser gesellschaftsbiologische Ansatz schloss an die Überlegungen zu Rassenhygiene und Eugenik an.

Am 13.11.1933 erließ Göring als preußischer Ministerpräsident einen Erlass über Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher, die eine zeitlich unbegrenzte Internierung ohne Gerichtsurteil ermöglichte. Dies bedeutete in der Praxis, dass Beweismangel für vermeintliche Straftaten die Haft häufiger veranlasste als tatsächliche Vorstrafen. Die dreimalige Vorstrafe war zwar im Jahre 1937 immer noch die Grundlage für zu erstellende Listen, aber am 14.12.1937 wurde die Vorbeugehaft auf jene ausgeweitet, die durch asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdeten. Dabei war das Asoziale die Abweichung von den gesellschaftlichen Vorstellungen der nationalsozialistischen Machthaber. Der Zugriff der Polizei auf Menschen war damit nicht rechtlich gebunden. Die Vorbeugehaft wurde, wie die Schutzhaft ab Sommer 1933, grundsätzlich in den Konzentrationslagern vollstreckt.1

Dies traf z.B. auch aus der Haft entlassene Gefangene, die als kommunistische Funktionäre 1933 in Schutzhaft gesessen hatten und später erneut, meist in Hochverratsprozessen, verurteilt worden waren.2

In Göttingen fand im Juni 1938 eine Sonderaktion der Polizei gegen Asoziale statt, dabei wurden die Arbeitsscheuen planmäßig erfasst.3 Ein Zusammenhang mit einem Bericht der Kriminalpolizei an den Regierungspräsidenten liegt nahe. Dieser listete die Personen auf, die vor ihrem Abtransport in die Vorbeugungshaft im Polizeigefängnis untergebracht waren. Die Haft im Polizeigefängnis in der Gotmarstraße dauerte vom 16.- 20.6.1938. Betroffen davon waren folgende Personen:

1. Kaufmann Otto Aschoff, 26.9.1892 (Schutzhaft im August 1933)

2. Arbeiter August Weiß, 19.12.1914

3. Arbeiter Edwin Schiffner, 21.10.1901

4. Arbeiter Karl Orth, 17.2.1902

5. Arbeiter Jacob Weimar, 15.2.1894

6. Arbeiter Hermann Gröling, 26.6.1913

7. Arbeiter Karl Strube, 12.12.1901

8. Buchdrucker Hermann Dorsch, 26.7.1891

9. Arbeiter Adolf Jacob, 8.3.1897

10. Kraftfahrer Heinrich Nöding, 20.6.1909

11. Kaufmann Willi Breithaupt, 19.11.1893

12. Arbeiter August Klaus, 1.10.1880 (Verstoß gegen das Heimtücke-Gesetz: am 30.1.37 in staatsfeindlicher Weise in der Übertragung der Führerrede benommen.4)

13. Arbeiter Wilhelm Schmidt, 24.1.1911

14. Kaufmann Richard Katz, 16.7.1899

15. Kaufmann Paul Zuchner, 19.11.1899

Die 15 Häftlinge wurden am 20.6.1938 abtransportiert. Hinzu kamen:

16. Bäcker Philipp Eisenbarth, 30.5.1896
vom 20.12.1938 - 3.1.1939 (Abtransport 4.1., 10 Uhr)
und
17. Klempner Max Kalide, 4.7.1886,
vom 24.2. - 14.3.1939 (Abtransport 15.3., 10 Uhr)
5

Ein Jahr später waren Karl Orth, Adolf Jacob und August Klaus immer noch in Vorbeugehaft im Konzentrationslager Sachsenhausen. Die übrigen Häftlinge scheinen bis zum Mai 1939 entlassen worden zu sein. Die Familien der noch Inhaftierten im Maschmühlenweg erhielten Unterstützung vom Städtischen Wohlfahrtsamt und von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV).6 Im August 1939 wurde die Ehefrau von Adolf Jacob in der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt untergebracht. Ihre Kinder wurden in die Wanderarbeitsstätte (Klatt) aufgenommen.7 Das jüngste Kind der Jacobs wurde im Göpperthaus untergebracht, dem Mütter- und Säuglingsheim in der Oberen Karspüle.

Am 23. Januar 1940 starb der Vorbeugungshäftling August Klaus (Häftlingsnummer 3470) in Sachsenhausen an Blutvergiftung.8

Im April 1941 befanden sich Adolf Jacob und Karl Orth immer noch in Vorbeugehaft in Sachsenhausen. Inzwischen waren folgende Göttinger ebenfalls dort als Vorbeugehäftlinge eingeliefert worden:

1. Wilhelm Hoffmann, geb. am 03.07.1894, Johannisstraße 1

2. Wilhelm Pofahl, geb. am 23.12.1908, Leinestraße 25

3. Karl Bösebeck, geb. am 14.12.1889, Maschmühlenweg 128

4. Fritz, Grotegut, geb. am 06.05.1875, Maschmühlenweg 5b (evtl.)

Die vier Kinder des Witwers Karl Bösebeck wurden vom Jugendamt in Pflegestellen untergebracht.9

Wie lange die Häftlinge in Sachsenhausen inhaftiert waren, ist unbekannt. Von den 21 Göttinger Vorbeugehäftlingen starb einer in der Haft.



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Literatur und Quellen

Cornelius, K. (2006): Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen: BWV, Berliner Wiss.-Verlag. Online verfügbar unter https://books.google.de/books?id=2i4_-A5CdoAC

Gefangenenpersonalakte Heinrich Macke: Strafgefängnis Hameln. Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 86 Hameln Acc. 143/90 Nr. 2164.

Schutz des deutschen Volkes: Schutzhaft, Vorbeugungshaft, Anzeigen. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 31a, Nr. 2, Bd. 2.

Verächtlichmachung der Reichsregierung. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 31a, Nr. 8.

Vollstreckung von Haftstrafen. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 28, Nr. 8.



1Cornelius 2006, S. 73-75.

2Gefangenenpersonalakte Heinrich Macke, S. 48. 14.12.1936 -Stapo-Stelle Hildesheim an Ortspolizeibehörde Hameln: Inschutzhaftnahme des Schäfers Heinrich Macke. Macke aus Osterode wurde nach Verbüßung seiner zweijährigen Zuchthausstrafe im Dezember 1936 in das Konzentrationslager Sachsenhausen überführt. In der Begründung hieß es, dass Macke als kommunistischer Funktionär und rückfälliger Schutzhäftling anzusehen und als solcher nach dem Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamtes Berlin im Anschluß an die Verbüßung der Strafhaft in vorbeugende Schutzhaft zu nehmen sei.

3Vollstreckung von Haftstrafen, S. 56. Ähnliches wurde auch bereits früher durchgeführt. In Einbeck erfolgte im Oktober 1933 eine Aktion gegen „Eckensteher“, Arbeitslose, die auf dem Markt herumstanden. Dabei wurden die bekannten Marxisten besonders ins Visier genommen. 26.10.1933–1987.

4Verächtlichmachung der Reichsregierung, S. 391v-392, 01.1937 - Verstöße gegen das „Heimtücke-Gesetz“.

5Vollstreckung von Haftstrafen, S. 57, Ortspolizei an Regierungspräsidenten Hildesheim, Haftkosten für Vorbeugungshäftlinge, 20.5.1939.

6Schutz des deutschen Volkes, S. 181, Aufstellung über Personen in polizeilicher Vorbeugehaft vom 4. Mai 1939.

7Wanderarbeitsstätten entstanden aus den Armen-Arbeitshäusern. Darin lebten auch Kinder, die den Anforderungen der täglichen Arbeit und des Schulbesuchs unterworfen waren. https://goettingensozial.wordpress.com/2013/01/16/das-armen-arbeitshaus

8Schutz des deutschen Volkes, S. 182, Aufstellung über Personen in polizeilicher Vorbeugehaft von 1940.

9Ebenda, S. 183, Aufstellung über Vorbeugehäftlinge vom 3. April 1941.

Rainer Driever