Angst

Im Sommer 1935, noch vor den Verhaftungswellen gegen den ISK, schrieb Willi Eichler über das Risiko der illegalen Arbeit im Reich: Unsere Verluste, die uns durch Paul (Polizei und Stapo, R.D.) selber oder durch seine Spitzel zugefügt worden sind, haben sich in verhältnismäßig minimalen Grenzen gehalten. Die Erziehung zur Vorsicht und zur prompten Innehaltung von Verabredungen und Anweisungen hat sich hier bewährt. (…) Aber man muß heute, um überhaupt in faschistischen Ländern politisch arbeiten zu können, auch (…) einrechnen können, dass jene Möglichkeit natürlich nicht ständig Wirklichkeit wird.1

Eichler meinte, dass man die Angst verdrängen oder zumindest unter Kontrolle halten musste. Wilhelm Schumann, ein Hann. Mündener Kommunist, wurde nach dem Reichstagsbrand 1933 von der Polizei gesucht. Er erinnerte sich: (…) Dank der Solidarität meiner politischen Freunde konnte ich bis zum 4. Juli 1934 einer Verhaftung durch die Gestapo entgehen. Diese Zeit der Illegalität legte mir infolge ständiger Verfolgung und Entbehrungen im täglichen Leben schwerste menschliche Belastungen auf. Getrennt von meinen Familienangehörigen mußte ich alle 2 bis 3 Tage mein Quartier wechseln, sehr oft auch den Ort. Auch die geplanten Treffs mit den Funktionären der Widerstandsgruppen im Gebiet Kassel und Kreisgebiet Münden mußten ständig gewechselt werden.2

Über den nicht in der Illegalität lebenden Anhängern der linken Gruppierungen in Göttingen schwebte ab Frühjahr 1933 die Drohung der Schutzhaft. Diese wurde, obwohl nicht von den neuen Machthabern erfunden, so eingesetzt, dass sie der Erzeugung von Angst und der Einschüchterung diente. Im Frühjahr 1933 hatte man bereits einige Eindrücke des Terrors der neuen Machthaber gegenüber politisch Andersdenkenden bekommen. Diese Drohung konnte noch verstärkt werden, z.B. durch einen Artikel in den Mündenschen Nachrichten vom 25.3.1933, in dem von der Errichtung eines Konzentrationslagers für verdächtige Linksradikale in Dachau berichtet wurde.3 Allerdings müssen wir uns bei dieser Meldung vergegenwärtigen, dass ihr Informationsgehalt für die Zeitgenossen ein anderer war als für uns.

Der Umgang mit der Drohung von Haft und Gewalt hing von der persönlichen Disposition ab, reichte von eher stoischer Hinnahme bis zur Angststörung. Willi Rohrig, damals im Jugendverband der KPD organisiert, erinnerte sich an einen Bekannten der Familie: Einer ist in dieser Zeit fast wahnsinnig geworden und dachte: Jetzt holen sie mich auch! Er hat sich tagelang auf dem Heuboden verkrochen und hatte praktisch eine Neurose.4

Dass diese Angst berechtigt war, wurde dem durchschnittlich informierten Göttinger klar, nachdem es zu schweren Misshandlungen von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern im Volksheim am 5. und 6. Mai gekommen war. (SPD Göttingen – Schutzhaft und Terror)

Karl Wagner, lange Zeit Führer der ISK-Jugendgruppe und ab 1934 in einer Fünfergruppe des ISK engagiert, betonte in seinem Interview, (…) was ich für einen Schiß gehabt habe. Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelte - jetzt kommen sie.5

Diese Angst teilte sich auch noch fünf Jahre nach der Machtübertragung mit. Zur Reichstagswahl 1938, die am 10. April zugleich mit der nachträglichen Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich stattfand, war wiederum nur eine Einheitsliste zugelassen. Die Wahlentscheidung sollte nicht geheim stattfinden, wie beim Volksentscheid gab es bei der Reichstagswahl nur die Möglichkeit, mit Ja oder Nein abzustimmen. Im Wahlbezirk Geismar/Göttingen stimmte im Wahllokal Landwehrschenke ein Wähler mit Nein. Er wurde noch vor Ort zusammengeschlagen und schwer misshandelt. Rita Großmann, eine Zeitzeugin, beobachtete im Alter von acht Jahren in Begleitung ihres Vaters den Vorgang. Ihr wurde der falsch ausgefüllte Wahlzettel durch uniformierte Nationalsozialisten gezeigt. Das männliche Opfer mittleren Alters wurde bewusstlos in einer Schubkarre zu seiner Wohnung in der Reinhäuser Landstraße 111 gebracht, wo er im Vorgarten auf den Rasen geworfen wurde. Rita Großmann begleitete mit ihrem Vater seinen Transport. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass über das Ereignis noch einmal gesprochen wurde.6

Bereits Inhaftierten blieb die Angst vor erneuter Verhaftung. Friedrich Vogt, Maschineneinrichter bei ALCAN (Wohnort Bishausen), antwortete auf die Frage, ob er Befürchtung gehabt hätte, noch einmal in ein Lager zu kommen: Ja, unter diesem Druck stand man immer. In der Gemeindeliste waren wir als Rote gekennzeichnet. Als ich in Moringen saß, brannte hier eine Scheune ab. Man wollte meiner Frau und meinem Bruder die Schuld geben. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, wäre ich dran gewesen. Das konnte ständig wieder passieren. Auch wenn sich nachher herausstellte, daß der SA-Mann die Scheune selbst angesteckt hatte, wäre der Verdacht sofort auf mich gefallen. Die Angst war da.7

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Literatur und Quellen

Augenzeugenbefragung Willi Rohrig (30.12.1976). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I, Nr. 78.

Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt (13.01.1977). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I, Nr. 98.

Hruska, Margid; Kropp, Dieter; Quest, Thorsten (1993): Münden in der NS-Diktatur: Exemplarische Analysen und didaktisch aufbereitete Dokumente zum Thema: Fabrikleben und Alltag im Nationalsozialismus. 2. Aufl. Göttingen: Verl. Die Werkstatt.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946): Korrespondenz 1935. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000028.

Interview mit Karl Wagner (13.04.1984). Archiv Dr. Joachim Bons, ohne Signatur. Interview von Joachim Bons, durchgeführt von Viola Denecke.

Reiter, Raimond: NS-Verbrechen vor dem Landgericht Göttingen. In: Göttinger Jahrbuch 1999, S. 137–149.

Schumann, Wilhelm (1973): Ihr seid den dunklen Weg für uns gegangen …: Skizzen aus dem Widerstand in Hann. Münden 1933 - 1939. Frankfurt/Main: Röderberg-Verlag.



1Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946), S. 6.

2Schumann 1973, S. 74–76.

3Hruska et al. 1993, S. 222, 25.3.1933 - M.N. - Konzentrationslager für Linksradikale (Dachau).

4Augenzeugenbefragung Willi Rohrig, 30.12.1976, S. 21.

5Interview mit Karl Wagner 13.04.1984, S. 4.

6Reiter, S. 148, 10.4.1938 - Reichstagswahl + Volksabstimmung "Anschluss".

7Augenzeugenbefragung Friedrich Vogt 13.01.1977, S. 21.

Rainer Driever