Otto Neugebauer (1899 - 1990)

Mathematikhistoriker

Gedenktafel
Otto Neugebauer Otto Neugebauer war der bedeutendste Historiker der Mathematik für die alten Kulturen von Babylon und Ägypten. Das Verständnis der in Keilschrift überlieferten Texte hat er revolutioniert und damit der weiteren Forschung zugänglich gemacht. In der ihn prägenden Zeit für diese sich über mehr als 60 Jahre erstreckenden Forschungen arbeitete er 1922 – 1934 am Mathematischen Institut der Universität Göttingen.

Neugebauer wuchs in Graz auf. Als 1917 den Schülern an den Gymnasien in Österreich der Erlass bestimmter Fächer bei der Abiturprüfung angeboten wurde, wenn sie sich zum Militärdienst meldeten, ergriff er die Gelegenheit, um das ungeliebte Fach Griechisch zu umgehen und fand sich bald danach als Artilleriebeobachter an der Österreichisch-Italienischen Front. Dort geriet er 1918 in Gefangenschaft, wo er sich nach seinen eigenen Berichten einen Bleistift mit seinem Kameraden (nämlich dem bekannte Philosophen) Ludwig Wittgenstein teilen musste.

Nach dem Studienbeginn in Graz und München kam er 1922 nach Göttingen zu Hilbert und Courant, mit dem er bis zu dessen Tod 1972 befreundet blieb. Schon 1922 begann seine Begeisterung für die antike Mathematik, er hörte u.a. Vorlesungen bei dem berühmten Ägyptologen Kurt Sethe und promovierte 1926 mit einer Arbeit über ägyptische Bruchrechnung. Mathematische Vorlesungen hörte er auch bei Emmy Noether, aus deren Kreis exzellenter Schüler er B. L. van der Waerden für die Geschichte der Mathematik begeistern konnte. Schon ein Jahr nach der Promotion habilitierte er sich 1927 für Geschichte der Mathematik.

1924 wurde er Assistent bei Courant und nahm diesem viele seiner ungeliebten Verwaltungsarbeiten ab. Dies war zunächst noch im Auditoriengebäude am Weender Tor. Als dann Courant die nötigen Finanzmittel für den Neubau eines Mathematischen Instituts in der Bunsenstraße beschafft hatte, war Neugebauer sozusagen der Generalmanager des Baus von der Seite der Mathematiker. Abgesehen von der allgemeinen Planung sorgte er für die ausgezeichnete Präsentation der Sammlung mathematischer Modelle in 63 Vitrinen im ersten Stock, einem Glanzpunkt des heute unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes. Auch die vorbildliche Gestaltung der Bibliothek ist ihm zu verdanken.

Anfang der dreissiger Jahre bekam Neugebauer Rufe auf Professuren an die THs Darmstadt und Braunschweig, der aber ablehnte, um in der Göttinger Atmosphäre zu bleiben. Hier wurde er 1932 zum a.o. Professor ernannt. Um diese Zeit hat er sich auch um den internationalen Zusammenhalt der Mathematik besonders verdient gemacht. Er betrieb die Gründung und übernahm die Herausgeberschaft des Referatenorgans "Zentralblatt für Mathematik", in dem zügig und weltweit die neuesten Forschungsergebnisse knapp dargestellt und bekannt gemacht wurden und werden. Schon 1929 hatte er die einflussreiche Zeitschrift "Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik und Astronomie" gegründet. Hier publizierte er auch seine eigenen Arbeiten zur Geschichte der babylonischen Mathematik und hauptsächlich der Astronomie, mit denen er unter anderem auch die Chronologie der vorchristlichen Jahrtausende auf eine solide Basis stellte. Den babylonischen Astronomen verdanken wir die noch heute übliche Einteilung der Stunden (und Winkel) in 60 Minuten und - natürlich in Übersetzung - die Namen der Wochentage. Er selbst schätzte im hohen Alter diese und die später darauf folgenden Bücher, insbesondere die zusammenfassende "History of Ancient Mathematical Astronomy" als die bedeutendsten Teile seines Lebenswerkes. Ein Höhepunkt dabei war auch die Entzifferung und Interpretation einer der berühmtesten Keilschrifttafeln, aus der man die Kenntnis des Satzes von Pythagoras ( ~ 530 v. Chr.) schon um 1800 v. Chr. bei den Babyloniern entnehmen kann.

Dann kam 1933 die Katastrophe für die Mathematik in Göttingen. Neugebauer, der sich schon früher gegen die Machenschaften nationalsozialistischer Studenten verwahrt hatte, wurde nun als "politisch unzuverlässig" beschuldigt. Nach mehrfachen derartigen Querelen entschloss er sich 1934/35 zunächst auf eine Professur nach Kopenhagen zu gehen und von dort aus 1939 als Professor für Mathematik und ihre Geschichte an die Brown University in Providence USA zu wechseln. Hier betrieb er nach Aufforderung durch die American Mathematical Society wiederum die Gründung eines internationalen Referatenorgans, der "Mathematical Reviews", als Konkurrenz zu dem immer mehr in Isolierung geratenen Zentralblatt. (Beide Zeitschriften existieren noch heute und kooperieren).

Neugebauer übersiedelte 1984 an das Institute for Advanced Studies in Princeton, wo er schon seit 1945/46 regelmäßig für längere Zeit zu Gast gewesen und z.B. mit John von Neumann, den er noch von Göttingen her kannte, befreundet war.

Noch einmal zurück nach Göttingen. Auf Druck der britischen Militärregierung wurde Neugebauer (wie auch anderen betroffenen Wissenschaftlern) Ende 1945 die Rückkehr auf seine Göttinger (Assistenten-) Stelle angeboten, was er aber verständlicherweise ablehnte. Als dann die Bundesregierung Anfang der 50er Jahre beschloss, vertriebenen Wissenschaftlern Wiedergutmachung zu leisten, stellte Neugebauer im Dezember 1953 einen entsprechenden Antrag. Dieser Antrag wurde vom Kurator Konrad Müller der Universität Göttingen befürwortet, aber von der naturwissenschaftlichen Fakultät diskutiert, weil Neugebauer nicht aus rassischen Gründen verfolgt gewesen sei. Außerdem habe es in Deutschland in den 30er Jahren überhaupt keine Professur für Geschichte der Mathematik gegeben. Endlich 1957 wurde Neugebauer als "a.o. Prof. mit Diäten", aber nicht als Ordinarius, Entschädigung geleistet.

In all seinen Arbeiten zur Geschichte der Mathematik und Astronomie kommt nach den Worten seines Biografen Swerdlow immer wieder Neugebauers grundlegende Überzeugung zum Ausdruck: Die Mathematik (und mit ihr die mathematische Astronomie) übersteigt alle praktischen Anlässe und Anwendungen, sie führt von den frühesten Anfängen bis heute ihr selbstbestimmtes Leben einer reinen Wissenschaft.

Für sein wissenschaftliches Werk erhielt Otto Neugebauer zahlreiche Anerkennungen, angefangen mit einer Ehrenpromotion 1938 durch die University of St. Andrews, weiteren Ehrenpromotionen und ähnlichen Würdigungen. In zahlreichen Akademien war er Mitglied. 1986 wurde ihm der schweizerische Balzan-Preis in Höhe von 250 000 sfr verliehen, das Geld spendete er für wissenschaftliche Zwecke.


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